Die Herzensbrecherin: Roman (German Edition)
herüber. Joel war verlegen, weil er sich mit ihr blicken ließ. Zumindest tröstete ihn die Gewissheit, dass hier niemand wusste, wer er war.
Als er in die Herrentoilette ging, um sich frisch zu machen, sah er einen Fremden im Spiegel. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, die Haut fahl und ungesund. Auf seinem Kinn
sprossen Bartstoppeln. Normalerweise rasierte er sich zweimal pro Tag. Deshalb wurde er nicht mit der Tatsache seines ergrauten Barts konfrontiert. Aber er trug keinen Rasierapparat bei sich. Und so spritzte er Wasser auf seine Wangen und musterte die Hähne statt des Spiegelbilds.
Wann er beschlossen hatte, Angela bis nach Memphis zu begleiten, wusste er nicht genau. Etwas anderes konnte er einfach nicht unternehmen. Die Fahrt tut mir gut, redete er sich ein. Und ich brauche endlich ein bisschen Urlaub.
Während sie sich der Westgrenze von New Mexico näherten, begann Angela wieder zu weinen. Das ertrug er nicht, und so herrschte er sie an: »Um Himmels willen, hören Sie auf! Sie haben den Mann nicht einmal gekannt!«
»Wenn ich weinen will, dann weine ich. Außerdem habe ich Sie nicht zu dieser Reise eingeladen, und Sie können jederzeit aussteigen.« Sie stellte das Radio lauter. Seit Tagesanbruch hörte sie Nachrichten aus Memphis.
»... die zwanzigtausend Trauernden, die sich heute Morgen am Elvis Presley Boulevard versammelt haben, sind inzwischen auf Fünfzigtausend angewachsen. Und alle hoffen auf eine Gelegenheit, den Leichnam des Rock-’n’-Roll-Kings zu sehen, der feierlich aufgebahrt im Salon von Graceland liegt. Vernon Presley, der Vater des Sängers, ließ die Eingänge des Anwesens öffnen, damit möglichst viele Fans hereinkommen und dem Toten die letzte Ehre erweisen können. Seit gestern Nachmittag sind aus aller Welt Blumen und Kränze eingetroffen. Auf vielen Gebinden steht die schlichte Aufschrift ›Für den King‹. Und die gewaltige Schar der Trauernden kann nicht fassen, dass der King gestorben ist ...«
Erbost schaltete Joel das Radio aus. Von einem sterbenden King wollte er nichts hören, nicht darüber nachdenken... Angela drehte das Radio sofort wieder an. Da warf er ihr einen Blick zu, der Staats- und Firmenpräsidenten
eingeschüchtert hatte – und den sie ignorierte. Außerhalb von Amarillo platzte ein Reifen. Die Reparaturwerkstatt der Tankstelle, die sie gerade noch erreichten, war völlig verschmutzt. In flimmernden Wellen stieg die Hitze aus dem rissigen Asphalt. Sie saßen an einem wackeligen Picknicktisch im spärlichen Schatten eines verkümmerten Götterbaums und warteten, bis der Reifen gewechselt wurde.
»So viel hat Elvis mir gegeben«, seufzte Angela. »Wenn ich aufgeregt oder traurig war, wenn mich mein Ehemann Frank wie den letzten Dreck behandelt hat ... Immer war Elvis da. Sobald ich seine Songs hörte, konnte ich Frieden mit mir selber schließen. Vielleicht klingt das wie Blasphemie. Aber so meine ich’s nicht. Manchmal knie ich in der Kirche und bete, schaue zur Jesus-Statue hinauf, und dann habe ich das Gefühl, da oben würde Elvis hängen. So viel hat er für uns geopfert.«
Joel fiel nicht ein, was Presley geopfert haben mochte – außer seiner Würde. Doch das sprach er nicht aus. Die Frau war verrückt. Eindeutig. Und was bedeutete diese Erkenntnis für sein Verhalten?
»Waren Sie auf der High School, Joel?« Zum ersten Mal redete sie ihn mit seinem Vornamen an. Dass Frauen wie Angela ihn so nannten – daran war er nicht gewöhnt. Er hätte es vorgezogen, sie würde ihn mit »Mr. Faulconer« ansprechen.
»Auf einer Militärakademie«, antwortete er kühl.
»Gab’s da Cheerleader?«
»Nein, ganz sicher nicht.«
»Früher war ich bei den Cheerleadern, eine der besten.« Leise und wehmütig fing sie zu singen an. »›Unser Team ist Spitze, auf in den Kampf ...‹ So beliebt war ich in der High School. Alle Kids mochten mich, weil ich nie hochnäsig war. Nicht so wie andere Mädchen. Wissen Sie, was mir an der High School am besten gefiel? Das ganze Leben lag vor
mir. In Gedanken traf ich nur richtige Entscheidungen. Alles war perfekt. Ganz anders als im wirklichen Leben, wo man den falschen Mann heiratet und Ärger mit seinem Kind hat. Was Ihnen und mir passiert ist – so was kommt in den Jugendträumen nicht vor.«
Joel sprang so abrupt von der Bank auf, dass sie seitwärts kippte und Angela fast herunterfiel. »Wagen Sie es bloß nicht, für mich zu sprechen. Mein Leben ist vollkommen. Anders will ich’s gar nicht
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