Die Herzensbrecherin: Roman (German Edition)
haben.«
Wie ein Messer schnitt ihr trauriger Blick in seine Brust. »Und warum fahren Sie dann nach Graceland?«, fragte sie leise. »Wenn Sie so ein perfektes Leben führen – warum begleiten Sie mich nach Graceland?«
Abrupt kehrte er ihr den Rücken. Hohes, staubiges Unkraut ruinierte die Politur seiner teuren Schuhe, ein Kaffeefleck verdarb das Blütenweiß seines maßgeschneiderten Hemds. »Weil ich müde war. Nur deshalb. Ich musste einfach weg – ich brauche ein bisschen Ruhe.«
Hinter ihm erklang ein Ausruf ungläubigen Staunens. »Führen Sie mich nicht an der Nase herum, Joel. Sie sind ja noch einsamer als ich.«
Zur Strafe für diese Anmaßung hätte er sie am liebsten angeschrien. Doch er fand keine Worte, die grausam genug gewesen wären. Sie trat zu ihm. Behutsam tätschelte sie seinen Rücken, wie eine Mutter, die ihr Kind tröstete. Mit dieser sanften, beschwichtigenden Berührung erzeugte sie eine seltsame Wehmut, die ihn zwang, die Augen zu schließen.
Der Mechaniker rief ihnen zu, er sei fertig mit dem Reifenwechsel.
Jetzt war Angela an der Reihe, das Steuer zu übernehmen. »Elvis sitzt neben dem Allmächtigen«, verkündete sie und fädelte den Toyota in den Verkehr auf der rechten Fahrspur ein. »Das sage ich mir immer wieder.«
»Glauben Sie tatsächlich daran?«, spottete er.
»Sie etwa nicht?«
»Natürlich nicht, obwohl ich der Episkopalkirche angehöre, die großzügige Spenden von mir erhält. Manchmal nehme ich an einem Gottesdienst teil, aber – nein – ich glaube nicht an Gott.«
»Tut mir Leid«, erwiderte sie mitfühlend. »Für Menschen von Ihrer Sorte muss es schwierig sein, an was Höheres zu glauben. Sie sind so mächtig, dass Sie sich für Gott halten, Joel. Und darüber vergessen Sie, wie unwichtig Sie in Wirklichkeit sind. In schweren Zeiten haben Sie nichts, was Ihnen Halt gibt. Bei mir ist’s anders. Ich war niemals wichtig. Und ich hatte immer meinen Glauben.«
»Gott ist nur eine Krücke für Ignoranten.«
»Dann bin ich froh über meine Unkenntnis. Denn ich wüsste nicht, was ich ohne meinen Gott machen sollte.«
Und so setzten sie die Odyssee fort – von Amarillo nach Oklahoma City, von Oklahoma City nach Little Rock, von Little Rock nach Memphis – zwei Menschen, schon etwas älter, auf dem Weg nach Graceland. Die Frau betrauerte den Verlust ihrer Jugend, und der Mann wollte den Tod sehen, damit er entscheiden konnte, ob er weiterleben wollte.
Am frühen Donnerstagmorgen erreichten sie Memphis. Eine tausendköpfige Menge hatte die ganze Nacht vor Graceland Wache gehalten, und deshalb fanden sie keinen Parkplatz in der Nähe. Schließlich stellte Angela den Toyota neben einem etwas weiter entfernten Hydranten ab. Joel brauchte dringend eine Dusche, saubere Kleidung und eine anständige Mahlzeit. Sollte er ein Taxi nehmen und zu einem Hotel fahren? Es gab ein Dutzend Dinge, die er tun könnte. Aber letzten Endes ging er tatsächlich mit ihr nach Graceland.
Schon um diese frühe Stunde war die Luft schwül und heiß. Über dem herrschaftlichen Gebäude kreisten Hubschrauber,
alle Flaggen hingen auf Halbmast. Der Anblick dieser Fahnen störte Joel. Einen Rock-’n’-Roll-Sänger so überschwänglich zu betrauern – das fand er unpassend. Wenn er starb, würden alle kalifornischen Flaggen auf Halbmast wehen. Hastig verdrängte er den Gedanken. Er würde noch lange nicht sterben. Sobald er wieder daheim war, würde er seinen Arzt aufsuchen und ihm erklären, wie elend er sich gefühlt hatte. Er würde das beengende Gefühl in der Brust beschreiben, die Müdigkeit, die Depressionen. Dann würde er Tabletten nehmen, auf seine Ernährung achten und endlich wieder Sport treiben.
Obwohl der Tag eben erst begonnen hatte, drängten sich bereits Souvenirhändler durch die Menschenmenge, die Gracelands hohe Ziegelmauer umgab und sich bis zum Elvis-Presley-Boulevard erstreckte. Schluchzende Trauergäste pressten Elvis-T-Shirts, Fotos und Plastikzigarren, in Hongkong hergestellt, an die Brust. Angewidert beobachtete Joel die vulgäre Szenerie.
Der Leichenzug würde aus dem berühmten Music Gate von Graceland auftauchen. Natürlich wollte Angela alles sehen. Joel bahnte ihr einen Weg zur vordersten Front der Menschenmasse, die sich im Einkaufszentrum direkt gegenüber versammelt hatte. Dafür brauchte er eine ganze Weile. Aber trotz seiner derangierten äußeren Erscheinung schienen die Leute die Bedeutung seiner Persönlichkeit zu spüren und machten
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