Die Herzensbrecherin: Roman (German Edition)
den frühen siebziger Jahren erfüllte der
Gedanke der freien Liebe die Luft wie Sauerstoff. Aber der Mann wurde von ihrem Vater so eingeschüchtert, dass er sich mit keuschen Küssen begnügte. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und erklärte, sie habe nichts gegen eine intimere Beziehung einzuwenden. Da entgegnete er, dafür würde er sie zu sehr respektieren. Wenn sie miteinander schliefen, würde sie sich danach selber hassen. Wie sie einige Monate später herausfand, vergnügte er sich mit einer von Paiges Freundinnen, und so gab sie ihm den Laufpass. Sie versuchte zu akzeptieren, dass sie zu den Frauen gehörte, die sich eher Respekt verschafften, als Leidenschaft erregten. Aber sie schwelgte jede Nacht in sexuellen Fantasien. Dabei träumte sie keineswegs von sanfter Musik und romantischem Kerzenschein. In diesen lustvollen Szenarien spielten dunkelhäutige Wüstenscheichs und hübsche weiße Sklavenhändler die Hauptrollen.
Dann erkrankte Kay an Lungenkrebs, und nichts anderes war mehr wichtig. Susannah gab das Studium auf, um ihre Mutter zu pflegen und die ständig wachsenden Ansprüche ihres Vaters zu befriedigen.
1972 starb Kay. Susannah war einundzwanzig. Während sie den Sarg ihrer Mutter in der Erde verschwinden sah, empfand sie tiefe Trauer – und die schreckliche Ahnung, mit Kays Tod würde gleichzeitig ihre eigene Jugend zu Ende gehen.
An einem sonnigen Apriltag 1976, zwei Monate vor ihrer geplanten Hochzeit mit Calvin Theroux, traf sie ihre Schwester Paige in einem kleinen, etwas vergammelten Restaurant. Das Lokal lag an einem Fischerpier, abseits von den Touristenschwärmen, die San Francisco zu jeder Jahreszeit überfielen. An diesem Tag war Susannah sehr beschäftigt. Aber sie wirkte weder gehetzt noch erschöpft. Ihr grünes Kostüm erweckte den Anschein, sie hätte es erst vor
wenigen Minuten angezogen statt um sieben Uhr morgens. Schlichte goldene Clips schmückten ihre Ohren. Das kastanienrote Haar hatte sie zu einem Nackenknoten geschlungen. Für eine Fünfundzwanzigjährige war diese Frisur etwas zu streng.
Obwohl sich Paige um zehn Minuten verspätete, blieb Susannah gelassen. Sie betrachtete den Russian Hill in der Ferne und ging in Gedanken ihr Tagesprogramm durch.
Aus diesen Überlegungen wurde sie von Paiges Stimme gerissen. »Ich habe wahnsinnig viel zu tun. Deshalb darf unser Lunch nicht lange dauern.«
Susannah musterte ihre Schwester und bezwang ihren Ärger. Da sie Paiges Temperament kannte, wollte sie keinen Wutausbruch riskieren, bevor sie miteinander gesprochen hatten. Wehmütig erinnerte sie sich an die Kindheit, als sie Spielsachen und Schokoladekirschen in Paiges Zimmer geschmuggelt hatte, wenn das kleine Mädchen mit Stubenarrest bestraft worden war. Aber eines Tages hatte Paige ihrem Vater davon erzählt – und prompt auf weitere Liebesdienste verzichten müssen.
Warum ihre Schwester damals gepetzt hatte, verstand Susannah noch immer nicht. Nun musterte sie das Mädchen, das seinen Rucksack auf den Boden warf und sich an den Tisch setzte. Sogar in abgetragenen Jeans und einem fadenscheinigen mexikanischen Baumwolltop sah Paige zauberhaft aus. Sie besaß eine zierliche Nase, volle Lippen, von Kay geerbt, Joels blaue Augen und lange, üppige blonde Locken, die dauernd so aussahen, als hätte sie ein junger Mann soeben in wilder Liebeslust zerzaust.
Zweiundzwanzig Jahre alt, war sie das genaue Gegenteil ihrer altmodischen Schwester – tough und cool, mit dem Slang eines Hafenarbeiters und einem scheinbar grenzenlosen Selbstbewusstsein. Susannah ignorierte die vertrauten Neidgefühle, die Paige stets in ihr weckte, und zeigte auf die
Speisekarte. »Probier die Meeresschnecken, die schmecken wirklich wundervoll. Oder vielleicht magst du Avocados, mit Krabben gefüllt?«
»Nein, ich nehme einen Hamburger«, erwiderte Paige desinteressiert.
Susannah bestellte Mahi-Mahi, ein Fischgericht, das sie auf ihren häufigen Reisen mit Joel nach Hawaii schätzen gelernt hatte. Als der Kellner davonging, schnitt sie das Thema an, das bei diesem Lunch erörtert werden sollte. »Hast du über unser letztes Telefongespräch nachgedacht? Heute Abend findet Vaters Geburtstagsparty statt. Er wird achtundfünfzig Jahre alt. Sicher würde er sich freuen, wenn du kommst.«
»Hat King Joel das gesagt?«
»Das musste er nicht betonen, ich weiß es«, log Susannah, eifrig bestrebt, die Entfremdung zwischen ihrem Vater und seiner jüngeren Tochter zu beenden. Im
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