Die Herzensbrecherin: Roman (German Edition)
Jagdgewehren, Angelruten, weichen Flanellhemden und Blue Jeans. Aber die schnalzenden Zungen und Warnungen und Seufzer seiner Tanten fesselten ihn mit sanften, unzerreißbaren Banden.
Nur im Klassenzimmer konnte er sich gehen lassen. So sehr ihn die anderen Jungs auch hänselten, er weigerte sich, seinen hellwachen Geist zu zügeln. Alle Fragen beantwortete er, erntete mit Spezialprojekten zusätzliches Lob und war stets der Klassenbeste.
Lehrers Liebling, Lehrers Liebling, Lehrers Liebling hat die Hosen voll ...
Mit vierzehn bekam er eine tiefe Stimme, und seine Muskeln kräftigten sich. Fast über Nacht schoss er in die Höhe, bis er die zierlichen Vogelgestalten seiner Tanten überragte. Obwohl er nicht mehr asthmatisch keuchte, verhätschelten sie ihn unverdrossen. An seinem ersten Tag in der High School zwangen sie ihn, ein weißes Hemd und eine Krawatte zu tragen. Seine akademische Brillanz wurde in diesem Schuljahr von herzzerreißender Einsamkeit getrübt.
Im Sommer vor seinem zweiten Highschool-Jahr half er seinen Tanten, einen Ferienbibelkurs abzuhalten. Als er eines Tages nach dem Unterricht heimkam, parkten gerade ein Möbelwagen und ein Kombi vor dem benachbarten weißen Holzhaus. Die Türen des Autos öffneten sich, und
ein Mann und eine Frau stiegen aus. Dann tauchten zwei lange, sonnengebräunte Beine auf, gefolgt von abgeschnittenen, ausgefransten Jeans. Beim Anblick des schönen Mädchens, das ungefähr in seinem Alter war, stockte ihm der Atem. Ein rotes Madras-Stirnband hielt aufgebauschte blonde Locken aus dem Gesicht. Hingerissen betrachtete er eine Stupsnase und weiche Lippen. Ein blaues Männerarbeitshemd schmiegte sich an hoch angesetzte, spitze Brüste.
Während sie ihre Umgebung musterte, entdeckte sie ihn, und er wartete auf eine höhnische, verächtliche Grimasse. Stattdessen überraschte sie ihn mit einem scheuen Lächeln. Da ging er zu ihr und wünschte, die Bibel und der Lehrplan unter seinem Arm wären unsichtbar.
»Hi«, sagte sie.
»Guten Tag«, antwortete er und verfluchte sich selbst, weil er so förmlich war. Doch er konnte sich nicht so lässig benehmen wie andere Jungs.
Sie schaute auf den Gehsteig hinab, und er sah weißen Löwenzahnflaum auf den blonden Locken. Nur mühsam bekämpfte er die fast unwiderstehliche Versuchung, ihn wegzuwischen. Weil sie unentwegt nach unten starrte, bemerkte er ihre Schüchternheit, und plötzlich empfand er das überwältigende Bedürfnis, sie zu beschützen. »Ich bin Mitchell Blaine«, stellte er sich vor und nutzte die Umgangsformen, die ihm beim jahrelangen Unterricht in gutem Betragen zur zweiten Natur geworden waren. »Ich wohne nebenan. Willkommen in der Nachbarschaft.«
Endlich schaute sie zu ihm auf. Neben ihrer Oberlippe haftete ein winziger rosa Lippenstiftfleck. Den Rest hatte sie bei einer Mahlzeit weggeleckt. »Mitch?«
So hatte ihn noch niemand genannt, außer den Eltern, an die er sich kaum erinnerte. Er war Mitchell. Mitchell-Mitchell, der Junge in den Windeln. »Ja, ich heiße Mitch«, bestätigte er.
»Ich bin Candy Fuller.«
Eine Zeit lang standen sie auf dem Gehsteig und unterhielten sich verlegen. Candy und ihre Familie stammten aus Chillicothe und waren soeben fest nach Clearbrook übersiedelt. In diesem September würde sie ihr zweites Highschool-Jahr beginnen. Also genau wie er. An ihrer alten Schule war sie Cheerleader gewesen. Das wollte sie ebenfalls an der Clearbrook High anstreben.
Als sie sich verabschiedeten, glaubte Mitch, sein Leben hätte noch einmal von vorn begonnen.
Während des restlichen Sommers trafen sie sich jeden Abend nach dem Dinner auf der alten Eisenbank in der Weinlaube seiner Tanten. Bevor Candy hinausgehen durfte, musste sie das Geschirr spülen, und sie roch stets nach einem Reinigungsmittel. Über ihren Köpfen wucherte dunkles Weinlaub, und sie redeten und redeten.
Candy erzählte von den Freundinnen, die sie in Chillicothe zurückgelassen hatte, und gestand ihre Sorge, man würde sie nicht ins Cheerleader-Team der Clearbrook High aufnehmen. Und Mitch vertraute ihr an, wie gern er ein Auto hätte und dass er hoffte, er würde ein Stipendium am College bekommen. Die Schattenseiten seines Lebens verschwieg er ihr, vor lauter Angst, ihre Zuneigung würde sich in Antipathie verwandeln.
Mit jedem Abend wuchs die Bewunderung in Candy Fullers dunkelblauen Augen, und Mitch konnte sein Glück kaum fassen. Noch nie hatte ihn ein Mädchen so angesehen. Wann immer ihm bewusst wurde,
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