Die Herzensdiebin
ein großes gerahmtes Bild lehnten umgedreht an der Wand.
Meadow hatte eine Gänsehaut und wurde von heißen und kalten Schauern heimgesucht.
Fünfundfünfzig Jahre lang hatte man diesen Raum mit Gerümpel vollgestellt, doch jetzt hatte Meadow die Ursache der traurigen und beklemmenden Atmosphäre entdeckt.
Dies war das alte Atelier ihrer Großmutter. Hier hatte Isabelle ihr letztes Gemälde vollendet. Hier hatte sie beschlossen, Bradley Benjamin zu verlassen. Und hier hatte sie mit gebrochenem Herzen gestanden.
Handelte es sich bei dem Gemälde, das an der Wand lehnte, um das lang gesuchte Meisterwerk? Hatte sie es endlich gefunden?
Devlin kniete sich vor den Rahmen. »Komm und schau es dir an.«
Sie konnte es kaum aushalten und wünschte sich, dass es das Gemälde sein möge. Aber selbst wenn ihr Wunsch in Erfüllung ginge und Devlin ihr das Bild überließe, damit sie die Behandlung ihrer Mutter zahlen könnte, wäre alles umsonst.
Das Einzige, das ihre Mutter jetzt noch retten könnte, wäre ein geeigneter Knochenmarkspender. Und der könnte Sharons Vater sein.
Doch die Chancen, dass die Werte übereinstimmten, waren nach wie vor gering.
Meadow hatte sich umsonst angestrengt. Keines ihrer Ziele hatte sie erreicht, und obendrein hatte sie sich in ihre Liebe zu Devlin verrannt.
Sie fasste sich mit einer Hand an den Bauch. Zumindest hatte sie ihr Kind.
Außerdem konnte es sich nicht um das Bild handeln, wonach sie gesucht hatte, denn dann hätte Devlin sie nicht an ihren Augen erkannt.
Mit einem Schulterzucken tat sie ihre Niederlage ab. Vielleicht strahlte gar nicht die Dachkammer dieses Gefühl von Bedrückung aus, sondern sie selbst.
Aber für ihr Kind hatte sie die richtige Entscheidung getroffen. Sie wollte es nicht darauf ankommen lassen, ihr Kind bei einem Vater aufwachsen zu sehen, der so stur und fordernd war wie der alte Bradley Benjamin. Sie hoffte nur, dass Sharon noch die Geburt ihres Enkelkindes erleben, das Kleine an ihr Herz drücken und einen Gipsabdruck der kleinen Händchen nehmen könnte. Meadow würde ihn neben ihren in ihr Atelier hängen.
Devlin sah Meadow ernst an und sagte dann mit beruhigender Stimme: »Das Knochenmark wird die erforderlichen Merkmale aufweisen. Der alte Benjamin muss wenigstens eine gute Tat in seinem Leben vollbringen, und das wird diese Spende sein.«
Es war ihr ein wenig unheimlich zumute, dass Devlin wieder einmal ihre Gedanken erraten hatte. Vielleicht waren sie schon zu vertraut miteinander, um ihn jetzt einfach so zu verlassen und aus ihren Gedanken zu verbannen.
»Was ist das für ein Bild?« Sie kniete nun neben ihm.
Er drehte die Leinwand um — und Meadows Blick fiel auf ein Gesicht, das von großen blauen Augen beherrscht wurde, in denen tiefe Sorge lag. Sie sah die leicht gebräunte Haut, das markante Kinn und das dunkle Haar, das so schwarz war, dass es hier und da ins Bläuliche spielte. Die Technik war noch nicht ausgereift, und Meadow hatte nie ein Bild gesehen, auf dem Isabelle so jung aussah, aber sie erkannte sie trotzdem.
»Großmutter.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Das ist meine Großmutter.«
37
Meadow betrachtete das Porträt aus jedem Winkel. »Es ist ein Selbstporträt. Ich würde ihren Stil immer erkennen.«
»Ich weiß. Schau. Sie hat es signiert: >Isabelle Benjamin — sie selbst .<« Devlin deutete auf den geschwungenen Schriftzug in der Ecke.
»Wie ernst sie aussieht!« Vorsichtig berührte Meadow die Farbe, die der Wange ihrer Großmutter die Konturen verlieh. Sie fühlte sich trocken und beinahe porös an. »Sie muss es gemalt haben, bevor sie Bradley verließ.«
»Das glaube ich auch.«
»Aber ich sehe doch nicht aus wie sie.« Sie rieb die Fingerspitzen aneinander und zog die Stirn kraus. Einige Farbpigmente blieben an ihren Fingern haften.
»Ihre Augen sind genau wie deine.«
»Glaubst du?«, fragte sie und freute sich insgeheim, dass sie der Frau ähnelte, die sie so geliebt hatte. Freute sich, dass er glaubte, ihre Augen seien so ausdrucksvoll und schön wie die ihrer Großmutter.
»Das ist so. An den Augen habe ich dich erkannt.«
Dagegen wollte sie nichts sagen. Nun war sie mit ihm allein an einem abgeschiedenen Ort — und obwohl sie einander erst seit kurzem kannten, wusste sie, was in seinem Kopf vorging. Er würde sie davon zu überzeugen suchen, aus freien Stücken bei ihm zu bleiben. Und der Gefahr war sie sich sehr wohl bewusst, denn ihr verräterischer Körper machte sich
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