Die Hexe aus Burgund: Historischer Roman (German Edition)
Tante.“
Der König, ein zurückhaltender, liebenswürdiger Mann, nahm Waldur darauf am Arm, führte ihn an einen kleinen Marmortisch und forderte ihn in für Waldur noch gewöhnungsbedürftiger skirisch-gotischer Mundart auf: „Setz dich, Junker Waldur, und wenn es dir noch so pressiert. Wir trinken ein Glas Wein zusammen, und du wirst sehen, nach dieser Erfrischung geht es dann umso flotter weiter.“
Sie nahmen Platz, und als Odoaker den Wein, einen mit Brunnenwasser versetzten Weißwein, in die Gläser schenkte, erkundigte er sich: „Wo soll es denn so eilig hingehen?“
„Ich muss schnellstens nach Rom.“
„Nach Rom, schnellstens - oh!“, lächelte Odoaker und bot ihm dann an: „Na, da gebe ich dir nachher mal besser zwei helle Leinenhemden und ein gutes Sonnenöl mit, aufdass du nicht rot sondern braun in Rom ankommst. Außerdem solltest du, statt deines Junkerhuts, einen luftigen Strohhut tragen. So reist man durch unser Land.“
Sie unterhielten sich eine gute Stunde, wobei Odoaker Waldur wertvolle Ratschläge für die Reise wie auch für seinen Romaufenthalt erteilte.
Erst dann nahm Odoaker die Botschaft hoch, brach das Siegel und rollte das Pergament auf. Es war ein langes Schreiben, während dessen Lesens sein Gesicht zunehmend verspannter wurde. Eine Schreckensnachricht? Nein, es war ein Warnhinweis: Julius, den strengkatholischen Bürgermeister von Rom, wurmte, dass Odoaker römischen Glaubensflüchtlingen in den norditalienischen Städten eine neue Heimat bot. Deshalb intrigierte er nicht nur bei dem Römerkaiser Zenon gegen Odoaker, er versuchte neuerdings außerdem, Keltenregenten gegen ihn aufzuwiegeln. Letzteres hatte die Alemannenfürstin Odoaker in ihrem Schreiben mitgeteilt und ihm erhöhte Aufmerksamkeit angeraten, damit er nicht eines Tages Opfer römischer Manipulationen werde. Odoaker wurde klar, wie berechtigt diese Warnung war.
Nun schenkte Waldur ihm Wein nach und schob dezent das Glas ein wenig näher zu ihm hin.
„Danke“, kam es darauf leise von Odoaker, „es geht schon wieder.“
Verspannt wirkte er aber noch immer. Er wurde erst wieder gelöster, als er Waldur wenig später zum Flur hinausbegleitete, ihm die Leinenhemden und das Sonnenöl holen ließ und ihm dann auftrug:
„Grüße, wenn du heimkommst, deine Tante und deinen Vater, und richte ihnen aus, es würde mich freuen, sie bald mal wieder zu sehen. Ich habe übrigens deine Mutter gut gekannt, Waldur, eine wundervolle Frau. Du hast ganz ihre stolze Kopfhaltung und sogar diese vorwitzige Kringellocke in der Stirn, genau wie deine Mutter.“ Jetzt reichte er ihm zum Gruß die Hand: „Sage deiner Tante meinen Dank für ihr Schreiben, und ich werde ihre Ratschläge beherzigen. Und dir wünsche ich, dass du alle Forderungen deines Junkerritts bestehst.“
„Danke, Majestät, und lebt wohl!“
K urz vor der Sonnenwende erreichte Waldur Rom.
Abgekämpft wie Scalla, ritt er zunächst durch eine Vorstadtsiedlung über Sand und Steine und unter sengender Sonne. In den Häusern sei es angenehm kühl, wusste er von Ethne und freute sich, bald bei Alwin, einem Sveben, einzutreffen, bei dem er während seines Romaufenthaltes wohnen soll, und dessen Villa hier am östlichen Stadtrand stehe. Waldur hielt Scalla an, um sich umzusehen - hier? Linker Hand standen nichts als verfallene Gebäude und rechter Hand Holzhütten, nein, -buden. Und hier sollte Alwin wohnen? Könne doch nicht stimmen. Er wollte weiter reiten, doch in dem Moment kamen aus den aufstehenden Türen der Buden sechs, sieben, acht dunkelhäutige, abgemagerte, fast nackte Kinder angerannt, hatten ihn im Nu umringt und sahen ängstlich bittend zu ihm hoch.
„Was wollt ihr?“, fragte er und stieg vom Pferd, „wo sind eure Eltern? Kümmert sich denn keiner um euch?“
Die Kleinen, keines mochte älter als fünf gewesen sein, antworteten in unverständlichen Sprachen. Darauf griff er in seine Satteltaschen, holte alles Obst und Brot heraus und verteilte es in ihre kleinen Hände. Und augenblicklich rannten die Ausgehungerten mit ihren paar Happen wieder zurück, um in den Buden zu verschwinden. Waldur stand nur da und starrte auf die dunklen Türlöcher. Dahinter leben Menschen, entsetzte er sich, Familien, deren Kinder um ihr Brot betteln müssen. Wahrscheinlich Sklavenfamilien.
Kopfschüttelnd wandte er sich um und wollte wieder in den Sattel steigen. Doch Scalla bockte, wollte ihn nicht mehr aufsitzen lassen, gab ihm mürrisch zu verstehen, Sattel und Gepäck
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