Die Hexe aus Burgund: Historischer Roman (German Edition)
heiligen Hain mit seinen imposanten Steineichen erreichten, erkundigte sich Waldur, wie lange diese Anlage schon existiere.
„Weit länger, als du zurückdenken kannst“, klärte ihn der Hohe Priester auf. „Du weißt, dass alle Kultstätten seit jeher nur an Orten mit entsprechender Erd- und Himmelsstrahlung errichtet worden sind und dort auch nach Möglichkeit erhalten werden.“
Nun brachte Waldur, dessen Herz von den hiesigen Eindrücken übervoll war, zaghaft hervor: „In meinem letzten Leben habe ich in dieser Stadt hier gewohnt, ehrwürdiger Druide, unten am Hafen. Ich habe in den letzten Tagen vieles wieder erkannt, auch diesen Hain und auch den Fürstenpalast, obwohl der alte Palast ja sicher verfallen ist, aber er hat fast ebenso ausgesehen wie der heutige.“
„Ich weiß.“
„Wer - wer war ich damals?“
Darauf tadelte ihn der Druide lächelnd: „Du bist neugierig, Junker Waldur, keine gute Eigenschaft. Nach seinen früheren Leben soll man doch nicht fragen, warum auch, hat man die nötige Reife, dann erinnert man sich von alleine.“
Inzwischen hatten sie den Licht durchfluteten Holztempel erreicht und betraten einen Seitentrakt. „Wir müssen zur Studentenherberge“, erklärte der Hohe Priester, „aber die ist leer heute, wir haben unseren Schülern vier Wochen Ferien eingeräumt, damit sie Ostern zu Hause verbringen können.“
Er führte Waldur in den ersten Stock, dort über einen Flur, und an dessen Ende öffnete er ihm die Tür zu einem sonnigen, stillen Gebetsraum: „Sieh, Junker Waldur, da steht der Kunstschatz.“
Waldur war eingetreten und gleich drauf überwältigt stehen geblieben. Vor dem offenen Fenster strahlte auf einer gewundenen Standsäule ein lebensgroßer Goldadler mit funkelnden Kristallaugen. Ein Bildnis des Sonnenaars. Den Adlerkopf mit dem leicht geöffneten Schnabel hochgereckt und die mächtigen Schwingen breit anhebend, glaubte Waldur, der Göttervogel rausche jeden Moment aus dem Fenster und dann jubilierend hoch gen Himmel. Wie die aufgehende Ostersonne, die Auferstehungsfreude, dachte er und vergaß alles um sich her, sah nur noch den Sonnenadler. Dabei war er sich gewiss - dieser Goldvogel hatte ihn bereits mehrere Leben begleitet, hatte ihm immerdar die Wahrheit verkünden, den rechten Weg weisen wollen, den Weg in die himmlische Freiheit. - ‚Sing, Sonnenaar, sing’, erinnerte er sich an ein uraltes Tempellied, ‚flieg, Sonnenaar, flieg, und sing uns das göttliche Lied.’
Ich werde schwerelos, fühlte er mit einem Mal, und nun werde ich fortgetragen, wohin? - Ich spüre es, weit hinein in das hauchblaue Reich von Urd, in die tiefste Vergangenheit. Dort finde ich mich, mein damaliges Ich, alsbald in einer riesigen Werkstatt wieder. Ehrfürchtig sitze ich vor diesem Goldadler, den ich in Holz nachschnitze. Den Goldadler, dieses alte, uralte Meisterwerk, über dessen Herkunft und Erschaffer bereits damals jeder gerätselt hat. Das Bild verschwindet, alles vor meinen Augen wird undurchsichtig grau. Gleich drauf fühle ich mich umgewendet, hin nach Skuld, und unversehens schwebe ich davon. Diesmal in die lichtgelbe Zukunft, in das Reich der Skuld. Ich rausche weiter und weiter, vorbei noch an der Jetztzeit, doch unmittelbar danach endet der Flug. Wie ich nun um mich blicke, erkenne ich Vater, daneben Hilibrand, dort Chlodwig und dann mich selbst, alle einige Jahre älter als heute und in für mich undurchschaubare, doch eindeutig bösartige Geschehen verwickelt. Die Geschehnisse werden noch tückischer, für mich noch unbegreiflicher - bis das Bild verblasst und sich schließlich auflöst.
Waldur sann ihm nach, vermochte es aber noch immer nicht zu deuten. Dann wurde ihm blitzartig klar - eines Tages muss er diesen Goldadler vor Feindeshand retten, muss dafür Sorge tragen, dass er in einem Land, wo die Menschen seine Aussage besser verstehen, einen neuen Platz findet. Dieser Adler wird mich also auch in Zukunft begleiten, dachte er, worauf er aus seinem Inneren die Bestätigung empfing: ‚Ja, Waldur, und er wird dich auch in künftigen Leben begleiten, solange, bis du seine Ode in ihrer umfassenden Herrlichkeit begriffen hast.’
Noch einen zeitlosen Moment, dann geriet Waldur zurück ins Hier und Heute. Vor dem Fenster strahlte unverwandt der Sonnenadler - Symbol für Freiheit und Weisheit, Verkünder des göttlichen Wortes.
Waldur betrachtete ihn noch lange.
B is Frowang lag ein weiter Weg vor Waldur, weshalb er sich zu seinem Leidwesen schon tags drauf
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