Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Fäkalien gesammelt werden konnten, und den Nachteil, dass der Gestank den einer üblichen Abortgrube weit übertraf. Über beide Häuschen war aus Brettern ein Obergeschoss zur Heulagerung errichtet worden. Dort nisteten Sophie und Marx sich ein. Marx entfernte eine der Bretterplanken, die direkt über dem Abort angebracht war. Schwaden zogen zu ihnen hinauf. Er grinste. Allein die Wärme machte den Raum erträglich.
»Du darfst keinen Mucks von dir geben, wenn ich mir den Burschen greife«, mahnte er.
Sie nickte.
»Das wird dir schwerfallen, weil er ein blasses Bürschchen ist, das bei Frauen den Wunsch weckt, ihn unter die Fittiche zu nehmen.«
»Nicht bei mir!«
»So spricht der wackere Soldat. Du wartest hier und hörst dir an, was ich aus ihm rausquetsche. Aber du rührst dich nicht von der Stelle.«
»Natürlich.«
»Und sag nicht natürlich – ich trau dir so weit, wie ich dich sehen kann.«
Sie lächelte. Dann machten sie es sich im Heu gemütlich.
Nach der Abendmahlzeit kam die halbe Dienerschaft, um sich zu erleichtern. Sie hörten leise Flüche und Seufzer der Erleichterung und einmal ein Kichern und etwas, das wie ein Kuss klang. Ein Hund begleitete ein kleines Mädchen auf den stillen Ort. Mittlerweile war es dort stockfinster, und die Kleine führte eine Kerze mit sich. Der Schein leuchtete für einige Minuten durch das fehlende Brett zu ihnen hinauf, und Sophie konnte sehen, dass Marx hellwach an die Decke starrte.
Conrad kam erst mit dem Morgengrauen. Dass es sich um Heinrichs Cousin handelte, schloss Sophie aus dem außerordentlich reinen Hemd des Mannes, aus seinem blassen, klugen Gesicht, aus der Ungeschicklichkeit, mit der er über einen Schuh stolperte, den einer der Abortbesucher verloren hatte, und aus der Verständnislosigkeit, mit der er das Ding anschließend betrachtete. Genau so hatte sie sich ihn vorgestellt. Ein Bücherwurm ohne Sinn fürs Praktische. Aber skrupellos, wenn ihn die Liebe überwältigte? Er murmelte etwas, schob den Schuh beiseite, drückte die Brettertür auf, hob das Hemd und setzte sich auf das Brett mit den drei Löchern.
Sophie wollte Marx anstoßen, doch er war bereits aufmerksam geworden. Sein Lächeln, als er lautlos zur Leiter schlich, war ohne jeden Humor und machte sie beklommen.
Sie spähte durch ein Astloch auf den Weg. Wenig später tauchte Conrad auf, und gleich darauf konnte sie sehen, wie Marx hinter der Abortwand hervorsprang, den verblüfften jungen Mann mit rohem Griff packte und ihn zu sich heranschleuderte. Conrads Gesicht lief erst rot und dann blau an, weil Marx ihm seinen Arm um die Kehle gelegt hatte. Die Knie des jungen Mannes – sie waren nackt unter dem Hemd – begannen zu zittern.
Doch plötzlich erschien Julius auf dem Weg. Marx und sein Opfer standen mit dem Rücken zu ihm – sie sahen ihn also nicht kommen. Hatte Julius geahnt, dass Marx irgendwann bei seinem Haus auftauchen würde? War er genau deshalb aus der Gefangenschaft geflohen? Und eben darum so wachsam? Jedenfalls hielt er eine Pistole in seiner Hand, und er schien nicht im Geringsten unsicher, was er tun solle. Sophie sah, dass der Hahn für einen Schuss gespannt war.
Einen entsetzlichen Moment lang erwartete sie, dass er Marx einfach niederschießen würde. Aber das konnte er nicht, ohne Gefahr zu laufen, den Jungen zu verletzen. So trat er lautlos auf die beiden Männer zu. Als er sie fast erreicht hatte, sah Sophie ihn zögern. Er sicherte den Hahn, drehte die Waffe und packte sie nun am Knauf, wahrscheinlich um seinen Kontrahenten niederzuschlagen.
Sie musste schreien – Marx warnen. Es war doch eindeutig, auf wessen Seite sie stand. Aber sie schwieg. Ihr Blick war wie gebannt auf die Männer gerichtet und ein lähmendes Gefühl des Verlustes überkam sie. Julius hatte ihr in der Zeit größter Not beigestanden und ihr wieder und wieder seine Hilfe angeboten. Marx … O Jungfrau, heilige, dachte sie. Ganz gleich, was geschah, es würde sie bis ins Mark treffen. So sah sie tatenlos zu, wie Conrad strampelte, wie Marx abwartete, dass er aufhörte, sich zu wehren, und wie Julius die letzten Schritte hinter sich brachte. Julius hob die Waffe …
Und dann kam alles anders.
Marx stieß Conrad von sich und fuhr herum. Er schlug zu – erst mit der Linken, so dass die Waffe davonflog, dann mit der Rechten und noch einmal mit der Linken, worauf Julius zu Boden ging. Aus dem Mund des Juristen schoss Blut. Sein Blick war glasig, während Marx ihn
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