Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
fachmännisch, mit tausendfach geübtem Griff, auf den Bauch drehte und ein Stück Schnur aus der Tasche zog, um ihn zu fesseln.
Sophie sprang auf und hastete die Leiter hinab. Als sie um die Ecke bog, blieb sie erneut stehen. Was war geschehen? Jetzt hielt plötzlich Conrad die Waffe in den Händen. Er musste sie an sich gerafft haben, während die beiden Männer miteinander beschäftigt gewesen waren. Conrad besaß weniger Skrupel als sein Hauslehrer. Ohne Zögern spannte er den Hahn – und jetzt erst merkte Marx, was geschah. Sein Gesichtsausdruck verhieß Schlimmes. Doch was auch immer er plante, Julius machte es zunichte. Der Hauslehrer rollte sich zur Seite, sprang auf, wand sich aus den Fesseln, die noch nicht geknotet waren, und entriss seinem Schützling die Waffe. Und dieses Mal schoss er wirklich.
Marx ging zu Boden.
Wieder floss Blut. Es war weder heldenhaft noch in irgendeiner Weise großartig. Marx wälzte sich am Boden, einen Moment lang überschattete sein Schmerz alles. Dass er nicht schrie, geschah aus blanker Wut. Blut quoll aus seinem Stiefel und färbte die weiße Seide des Strumpfs rot. Er biss sich selbst in den Arm und versuchte wieder auf die Füße kommen. Julius benutzte die Waffe ein zweites Mal, indem er sie Marx, wie er es zu Beginn vorgehabt hatte, über den Kopf zog. Marx wurde nicht bewusstlos, aber er war so benommen, dass Julius ihn nun mühelos hinter den Schuppen ziehen und ihm die Hände aneinanderfesseln konnte. Sophie stürzte zu dem Blutenden. »Lasst ihn«, sagte Julius, und es hörte sich nicht wie eine Bitte an.
»Gott, er blutet!«
»Natürlich«, sagte Julius, erhob sich und wischte über das eigene von Blut und Tränen verschmierte Gesicht.
Conrad trat zu ihnen. »Er wollte mich ermorden«, flüsterte der junge Mann völlig schockiert. Als niemand reagierte, stotterte er: »Ich hole jemanden.«
Julius schüttelte den Kopf. Das Blut aus seiner Nase wollte nicht aufhören zu laufen. Zu ungeduldig, um sich damit zu befassen, riss er einen Fetzen seines Hemdes ab und stopfte ihn in sein Nasenloch. »Du gehst hinein und sagst, wem immer du begegnest, dass sich der Schuss aus Versehen gelöst hat. Ich will hier die nächste Viertelstunde niemanden sehen.«
»Warum?« Conrad bekam keine Antwort und machte sich eingeschüchtert auf den Weg.
»Ja, warum?«, wollte auch Marx wissen, der den Kopf schüttelte wie ein Bulle, der gegen eine Wand gerannt ist.
Sophie gab einen zornigen Laut von sich. Sie kniete nieder und zerrte Marx Stiefel und Strumpf vom Fuß. Was sie erblickte, war schwer einzuschätzen. Eine Fleischwunde und Blut, das in breiten Bächen das haarige Bein hinabströmte! Sie dachte an Wundbrand – die häufigste und schlimmste Komplikation bei Schusswunden. Nun gut, zunächst einmal musste sie das Blut stillen. Mit fliegenden Fingern riss sie einen Fetzen aus ihrem Unterrock.
»Kein Grund, um ihn zu weinen. Er ist ja noch nicht tot«, erklärte Julius mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme.
»Warum habt Ihr nur auf ihn geschossen?«
»Um zu verhindern, dass ein weiterer Junge Schaden nimmt? Wer ist denn wo eingedrungen? Wer hat das hier losgetreten?« Julius nahm ihr den Stoffstreifen aus der Hand und band ihn ohne viel Zartgefühl um das lädierte Bein. »Der Stiefel kommt wieder drüber, dann sitzt das Zeug fest. Und … nein, es tut mir nicht leid!«, blaffte er Marx an, der unter der rauen Behandlung um Atem rang.
Conrad kam im Eilschritt zu ihnen zurück. Er sah immer noch bleich aus. Marx warf ihm einen wütenden Blick zu und verlangte von Julius: »Hör mich an!«
Julius schnürte den Stiefel, und Marx brachte stöhnend heraus: »Los, Sophie: Sag du ihm, was du von Elisabeth erfahren hast.«
Sie schaute kurz zu Conrad, dann kam sie der Bitte nach. Vor allem nannte sie den Namen des Mädchens: Valerie. Sie sah, wie der Student sich auf die Lippe biss.
Marx schaffte es endlich, sich aufzurichten. »Kapierst du nicht, Julius? Dieses Mädel war Heinrichs Geliebte – aber Conrad hatte sich ebenfalls in sie verguckt. Nun komm schon, Junge …« Das ging an den blassen Jüngling. »Die Sache ist raus. Erzähl den Rest. Valerie ist schön wie ein Maienmorgen, nehme ich an. Du hast sie geliebt. Du warst eifersüchtig und wusstest nicht mehr, was du tust. Alles verständlich. Schon tausendmal vorgekommen. Nur steh jetzt dazu. Die Liebe ist ein Dreck, wenn man sich nicht zu ihr bekennt.«
»Jeder liebte sie«, gab Conrad
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