Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
haben.«
Sophie nickte, versuchte beeindruckt auszusehen, dachte an Henriette – und hätte vor Ungeduld explodieren können. »Ist Julius schon von meinen Eltern zurück?« Der Hauslehrer hatte sich auf ihr Bitten nach Breitenbenden begeben, um ihrer Familie zu berichten, dass es ihr gut gehe. Und außerdem wollte sie auch selbst wissen, wie es daheim stand. Mutter hatte Henriette bestimmt nicht kampflos herausgegeben, und Sophies Verschwinden musste Marsilius verrückt vor Wut gemacht haben.
»Leider noch nicht.«
Als Sophie wieder mit Irmgard allein war, setzte sie sich an ein Spinett, um der Kranken etwas vorzusingen. Der Tag war regnerisch, und Irmgard lief angespannt von einer Ecke in die andere und räumte fortwährend Gegenstände um. Doch der Choral, den Sophie anstimmte, schien sie zu beruhigen. Zum ersten Mal zeigte sie sogar ein Lächeln. War Kirchenmusik das Mittel, ihrer Seele Erleichterung zu verschaffen? Sophie sang weiter und versuchte dann, mit ihrem Schützling zu sprechen. Aber da zog Irmgard sich wieder verängstigt zurück.
Tomas war dennoch von den Fortschritten begeistert. Erleichtert beobachtete er, wie Irmgard sich nahezu normal in den Wohnräumen bewegte. Und eine Woche später machte er den Vorschlag, die Kranke gemeinsam mit Sophie in eine Kirche zu führen.
»Oder meint Ihr, es sei noch zu früh? Nein«, beantwortete er die Frage selbst. »Meine Schwester ist zur Ruhe gekommen. Wir gehen aber besser nicht in einen Gottesdienst.« Der Dom kam für dieses Experiment auch nicht in Frage: zu groß, zu viele Menschen. Doch direkt neben dem Dom befand sich eine kleine Jesuitenkirche. Und dorthin machten sie sich auf den Weg.
Der weißgoldene Kirchenraum mit den Säulen, die trotz ihrer Wucht aufgrund ihres filigranen Goldschmucks zierlich wirkten, strahlte Ruhe aus. Es roch nach Weihrauch, Kerzen und Staub. Über dem Altar hing der Gekreuzigte, an den Seitenwänden wurde in zwölf Bildern sein Martyrium von Golgatha bis zur Auferstehung dargestellt. Schmutzige Stiefelabdrücke auf den Fliesen im Mittelgang zeigten, dass einer der Gläubigen es versäumt hatte, sich die Schuhe zu reinigen.
»Es gefällt ihr«, flüsterte Tomas und führte seine Schwester voller Besorgnis, sie könnte dennoch ein Kissen greifen, um es mit den Zähnen zu zerreißen, in eine kleine Seitenkapelle, wo Irmgard sofort niederkniete. Sophie blieb unschlüssig bei ihnen stehen und begab sich, als sie sah, wie Irmgard versunken zu beten begann, in den Kirchenraum zurück. Sie setzte sich auf eine der Bänke, faltete die Hände und versuchte ebenfalls zu beten. Doch ihre Gedanken schweiften schon bald wieder ab. Wo mochte Marx sich jetzt befinden? Sie dachte an die schweren Wunden, die er nach der Tortur im Hexenturm erlitten hatte, und versuchte sich damit zu beruhigen, dass er offenbar eine kräftige Konstitution hatte. Ganz gewiss war seine Wunde – kaum mehr als ein Streifschuss – bereits am Heilen. Würde sie ihn wiedersehen? Hasste er sie dafür, dass sie sich mit Julius auf eine Seite geschlagen hatte?
Eine Frau, die vor dem Hauptaltar eine Kerze entzündete, machte ihr wieder bewusst, dass sie sich im Haus des Herrn befand – und ausgerechnet hier dachte sie an den Mann, mit dem sie Ehebruch begangen hatte! Sie senkte beschämt den Kopf. Ihr Blick fiel auf eine Magd, die mit einem nassen Lappen die Fußstapfen fortwischte, und dann auf den Beichtstuhl, der zwischen zwei Seitenkapellen stand. Das Türchen, das hineinführte, war durch einen schweren weißen Vorhang verhängt. Ein älterer Mann schob ihn gerade beiseite und verschwand in dem Kämmerchen. Wenn er wieder herauskam, würde sie selbst ihre Sünden bekennen. Vor allem die eine, die große. Sie seufzte leise.
Die Minuten verrannen.
Der Mann im Beichtstuhl – er trug den schwarzen knöchellangen Mantel und das Barett eines Gelehrten – trat in den Kirchengang zurück. Sophie schaute zu der Seitenkapelle, in der Irmgard immer noch kniete und Tomas sich glücklich die Nase kratzte, und schritt zögerlich zum Beichtstuhl. Sie schob den Vorhang beiseite, schlüpfte in das Kämmerchen und kniete nieder. »Vater, ich habe gesündigt …«
Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff, dass sich niemand auf der anderen Seite des Holzgitters befand. Aber was hatte der Gelehrte dann hier gemacht? Hatte der Beichtvater seinen Platz vielleicht gerade in dem Moment verlassen, in dem sie ihren eigenen eingenommen hatte?
Mit einem sündigen Funken
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