Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
nicht geschehen«, hatte Marx behauptet, als Heinrich seine Schilderung beendete. Der sternengläubige Generalissimo des katholischen Kaisers war sein Idol, und es hatte ihn maßlos geärgert, dass Ferdinand sich von seinem besten Feldherrn losgesagt und Johann Tilly das Kommando übertragen hatte. Vielleicht hatte er sogar recht mit seiner Einschätzung. Vielleicht hätte Wallenstein, im Gegensatz zu Tilly, das Massaker in der Stadt verhindert. Er galt als Pragmatiker, und die Stadt hätte ihm unzerstört mehr genutzt. Aber was spielte das für eine Rolle angesichts der seelischen Zerrüttung des Jungen?
Einige Tage nach seiner Rückkehr war Heinrich zu Julius gekommen und hatte ihm von zwei Schmiedelehrlingen erzählt, denen er durch die brennende Stadt ins Freie geholfen hatte – vielleicht weil er sich so etwas wie Absolution von seinem Hauslehrer erhoffte. Er hatte sie nicht retten können, man hatte sie kurz hinter der Mauer aufgegriffen und an einem Scheunenbalken aufgeknüpft. Julius hatte zunächst keine Worte gefunden, um die Seelenpein des Jungen zu mildern. Und als er schließlich doch sprach, hörte er selbst den falschen Klang in seiner Stimme. Er verabscheute den Krieg – so wie er Leute wie Marx verabscheute, die einen Sinn in dieses Morden unter Christen hineinreden wollten. Jetzt, während er zuhörte, wie Elisabeth, die Heinrichs Namen aufgeschnappt hatte, von der Vorliebe ihres Sohnes für eingeweckte Birnen erzählte, verfluchte er den verdammten Kerl erneut.
»Unser Junker hat sich von den katholischen Teufeln abgekehrt, als er Zeuge ihres gottlosen Tuns wurde«, wetterte Claßgen und schreckte mit seiner Stimme die Vögel auf, die sich auf einem benachbarten Grabmal niedergelassen hatten. »Er ist in Reue heimgekehrt und hat begonnen, ein Leben in Frieden und christlicher Bescheidenheit zu führen …«
Auch das stimmte. Heinrich hatte sich von seinem Onkel in die Verwaltung des Gutes Herbede einarbeiten lassen, die ihn zuvor maßlos langweilte. Doch dann war er zu seiner verhängnisvollen Reise aufgebrochen, die ihn über die Wildenburger Herrschaft nach Speyer bringen sollte. Was er dort wollte, daraus hatte er ein Geheimnis gemacht, aber Julius erinnerte sich noch, wie ungern er ihn ziehen ließ. Heinrich hatte auf ihn plötzlich verändert gewirkt, als triebe ihn erneut eine geheime Leidenschaft. Eigentlich wäre dieses Erwachen aus der seelischen Starre erfreulich gewesen, doch die Veränderung war zu abrupt gekommen, es hatte keinen Anlass dafür gegeben – das hatte ihn misstrauisch gemacht.
Und dann war der Junge ermordet worden.
»… aus Habgier«, donnerte Claßgen über das Grab hinweg. »Aus Habgier hat Marx den Junker in die Hölle geschickt, und dafür möge er selbst in der Hölle schmoren!«
»Schmoren und zuvor kräftig anbraten«, tönte Elisabeths melodische Stimme durch die laue Sommerluft. Da Julius ihr nicht mehr zuhörte, sprach sie zu ihrem Neffen Conrad, der mit verweinten Augen auf den hölzernen Sarg starrte. »Wenn man das Fleisch schmort, gibt das eine wunderbare Färbung und außerdem einen würzigen Geschmack. Aber zuvor muss man es anbraten. Merk dir das, Junge! Wenn du Fleisch ins Fett legst, darfst du nicht zögerlich …«
»Himmel, Elisabeth, so sei doch still«, fuhr Reinhard sie an. Die Leute schauten betreten zu der kleinen Gruppe der Familienangehörigen. Vielleicht war es doch kein guter Einfall, sie mitzunehmen, dachte Julius mit einem Seufzer. Er packte den Arm der schmalen Frau und führte sie ein Stück zur Seite, während sie munter über Soßen und Mürbebraten plauderte. Die Freundlichkeit, mit der sie seine Hand drückte, kam aus tiefstem Herzen. Er war einer der wenigen Menschen, die sie auch in den schrecklichen Stunden um sich duldete, in denen sie eine Ahnung ihres Zustands überkam.
»Wer ist habgierig?«, fragte sie.
»Niemand«, erwiderte er so sanft, wie er es fertigbrachte. Das stimmte auch. Der Pfarrer irrte. Etwas Primitives wie Habgier hätte Marx nicht einmal dazu bewegen können, eine Augenbraue zu heben. Diesen Menschen hetzten ganz andere Dämonen.
»… im Namen Christi, unseres Heilandes. Amen.« Pfarrer Claßgen kam – vielleicht weil die Mutter nicht mehr am Grab stand – zum Ende seiner Predigt. Er winkte, und die Männer, die den Sarg in die Grube lassen sollten, machten sich an ihren letzten bedrückenden Liebesdienst.
Beklommen dachte Julius an die wenigen Überreste, die in dem Holzkasten lagen.
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