Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
dieser Rede ging ein Aufschrei durch die Wildenburger Herrschaft. Man hatte Marx schon länger gejagt, doch das Interesse unter den Bauern war gering gewesen. Der Mörder hatte zwar eine Bande um sich geschart, die gelegentlich Vieh von den Weiden stahl, aber noch nie war dabei ein Mensch zu Schaden gekommen. Dieser Mord änderte alles. Ein achtbarer Mann und seine Familie waren massakriert worden. Marsilius hatte es leicht, Freiwillige zu finden, um den Unhold zu jagen. Sogar ihr Nachbar Werner von Reifferscheidt, mit dem Marsilius vor dem Reichskammergericht über sein Recht auf die Blutgerichtsbarkeit stritt, schloss sich ihm an.
Lange war ihr Bemühen allerdings vergebens. Zweimal wurde der Mörder gesichtet. Einmal bei einem Waffenschmied, wo er eine kostbare Steinschlosspistole stahl, und dann auf einem Gutshof, wo er der vor Angst halb ohnmächtigen Hausherrin eine wertvolle Bibel abnahm, die schon seit Urzeiten im Familienbesitz gewesen war und in der ihr gesamter Stammbaum verzeichnet stand, was der Frau schier das Herz brach.
Die Häscher wurden gerufen, kamen aber, wie auch früher bei den Viehdiebstählen, zu spät. Sämtliche Verfolgungsjagden verliefen ins Nichts. Es war, als würde der Höllenfürst selbst Marx und seinen Spießgesellen beistehen. Diese Ansicht, über die zunächst scherzhaft gemunkelt wurde, begann sich allmählich unter den Wildenburgern durchzusetzen. Denn das Glück der Mordbande war sagenhaft.
Mancherorts wurde überlegt, ob es sich bei Marx von Mengersen gar um einen Werwolf handeln könnte. Seine unglaubliche Flucht von der Wildenburg, gewissermaßen unter dem fallenden Beil des Henkers hinweg, nährte diesen Glauben. Kaspar, der Söldner, der Marx hatte hinrichten sollen, erzählte in den Dorfschenken, dass aus den Löchern im Hemd des Delinquenten fellartig behaarte Haut gelugt hatte, just bevor er auf seinen weißen Teufelsschimmel sprang. Die Leute bekreuzigten sich und sicherten ihre Türen und Fenster.
Als die Kerle eine Kutsche überfielen und den Kutscher ermordeten und die Reisenden misshandelten, kochte die Volkswut erneut auf. Ein Trupp von über hundert Mann durchkämmte die gesamte Wildenburger Herrschaft, aber wieder ohne Erfolg. Nach dieser Verfolgungsjagd kam Marsilius erschöpft, mit schwarzen Ringen unter den Augen und verdreckter Kleidung heim. »Wir brauchen endlich einen neuen Pfarrer«, brüllte er, als er in das Zimmer neben der Küche polterte.
Sophie, die gerade ein Säuglingsmützchen bestickte, fuhr auf. »Sicher hast du recht«, beeilte sie sich, ihm beizupflichten. Ihr Herz pochte, weil er nicht in seine eigenen Räume geeilt war, sondern zu ihr kam. Hatte das etwas zu bedeuten? »Sobald wie möglich«, sagte sie, weil ihr sonst nichts einfiel. Seit dem mysteriösen Verschwinden von Pater Ambrosius wurde die Gemeinde von einem Geistlichen aus dem nahe gelegenen Paulushof mit versorgt. Aber das war natürlich kein dauerhafter Zustand. »Hast du schon jemanden im Sinn?«
»Bring mir zu essen.«
Natürlich. Ihr Ehemann hatte Hunger, und er wollte sich nicht unterhalten, bevor er gegessen hatte. »Es ist schon alles vorbereitet.« Sie versuchte nicht mehr, die heitere Stimme ihrer Mutter zu imitieren. Ihre Ehe war völlig anders als die der Eltern. Ihre Mutter war gelegentlich gekränkt gewesen, dass Vater ihre Arbeit nicht würdigte, aber sie hatte niemals Angst vor ihm gehabt. In Sophies Ehe war die Angst allgegenwärtig. Nach einem Räuspern fragte sie: »Wann willst du dich denn darum kümmern?«
»Hab ich gesagt, ich will essen?«, blaffte Marsilius sie an. Sie schluckte. Rasch erhob sie sich, doch da wurde bereits die Tür aufgestoßen, und Theiß trug eine Platte mit kaltem Fasanenbraten herein. Sein Neffe, ein halbwüchsiger Bursche mit einer klaffenden Hasenscharte, den er gerade anlernte, folgte ihm mit einem Krug Bier.
»Bringt es zum Tisch«, befahl Sophie überflüssigerweise. Marsilius streckte dem Küchenbuben die Füße hin, und der Kleine zog ihm, nachdem er das Bier abgesetzt hatte, die Stiefel herab. Heißhungrig biss Marsilius in ein Stück Braten. »Brot!«, schnauzte er. »Und hol Pfeffer. Das ist doch nicht gewürzt!«
»Bringt auch die gebackenen Apfelringe«, schob Sophie nach, um ebenfalls etwas zu sagen. Sie beobachtete ihren Ehemann, während er gierig das Fleisch hinunterschlang. In diesem Moment erinnerte er sie an ihren Vater, der ebenfalls mit einem gesunden Appetit und nicht allzu feinen Tischmanieren gesegnet
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