Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
noch hatte sich keine Menschenseele blicken lassen, aber er wagte auch nicht, sich zu entfernen. Die Frau war immer noch halb bewusstlos, und er hatte Angst, dass sich ein wildes Tier über den Säugling hermachen könnte. Dann schlug sie die Augen auf. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, war misstrauisch und ängstlich. Sie sah aus, als versuchte sie sich zu besinnen, was geschehen war. Süßer Heiland, so ein junges Ding. Er fand, dass sie etwas von einer Katze hatte. Buckelnd und zurückweichend. Sie schwitzte wegen des Fiebers und schob den Mantel aus Wolfsfell beiseite. Ihr Körper wirkte in dem viel zu weiten Kleid knöchern und zerbrechlich. »Mir tut alles weh.«
»Tja. Es war wohl eine schwere Geburt.« Er hatte keine Ahnung, ob das stimmte. Aber dieses viele Blut.
»Wer seid Ihr?«
Er nannte seinen Namen, mit dem sie natürlich nichts anfangen konnte. Sie wirkte verwirrt und starrte zum Himmel. Als er die Hand auf ihre Stirn legte, um festzustellen, ob es ihr besser ging, schob sie sie beiseite. »Was tut Ihr hier?«
Er erklärte ihr die Situation.
»Ach so«, sagte sie.
»Das Kind trinkt gut. Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen.«
Der Ausdruck in ihrem Gesicht war schwer zu deuten. Nach Mutterliebe sah er jedenfalls nicht aus. Einen Moment lang fühlte Julius sich abgestoßen. Eine Mutter sollte nach seiner Vorstellung ihrem Nachwuchs warme Gefühle entgegenbringen – gleich unter welchen Umständen sie ihn geboren hatte.
»Ihr seid ein Reisender?«, fragte sie, obwohl er ihr das doch gerade ausführlich erklärt hatte.
»Ich bin auf der Suche nach einem Pfarrer namens Ambrosius. In seinem Garten wurde der Leichnam eines jungen Mannes gefunden, und da ich mit diesem Toten durch herzliche Gefühle verbunden bin, wollte ich von dem Pfarrer erfahren …«
»Ambrosius ist verschwunden. Wahrscheinlich tot.«
Aha, sie hatte ihn also gekannt. Was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass sie aus der Gegend stammte. »Ich habe gehört, er sei wieder in seiner Pfarrei aufgetaucht.«
»Wirklich?« Die Frau rieb mit dem Handballen über ihre Augen. Er hatte die Scheußlichkeit zwischen ihren Beinen entfernt, während sie schlief, aber wenn sie auch nur den Geruchssinn eines Regenwurms besaß, musste sie sich vor ihrem eigenen Gestank ekeln. Wahrscheinlich war ihr die Lage entsetzlich peinlich. Julius griff nach seiner Lederflasche, in der sich noch ein Rest Wasser befand. »Wollt Ihr …«
»Auf jeden Fall gehe ich nicht zurück.«
»Wohin denn?«
»In die Burg.«
»In …« Julius’ Blick ging unwillkürlich zu dem Gebäudekomplex mit dem imponierenden Palas und den Schutztürmen, der weithin sichtbar jenseits des Tümpels auf einer Felsschanze thronte. »Wohnt Ihr dort?«
»Mein Mann ist der Burgherr«, erklärte sie gleichgültig.
»Ihr seid die Freiherrin von Palandt? Was zum Teufel hat Euch dazu gebracht …«
»Ich kann nicht zurück.«
»Nun …«
»Marsilius hat gewusst, dass die Hexe wieder in der Burg ist. Ohne seine Hilfe wäre sie nicht durchs Tor gekommen. Deshalb war er auch so schroff. Er war müde, aber nicht von seiner Arbeit, sondern vom Huren.«
O lieber Herr Jesus. Er hatte ja geahnt, dass etwas nicht stimmte.
»Ich will zu meinen Eltern.«
Nun gut, das würde sich finden. Julius beugte sich vor und hob die Pluderhose mit dem Säugling auf. Das Kleine hatte dunkle Haare wie die Mutter. Es war wach und blickte ihn mit gespitzten Lippen an. Er ertappte sich dabei, wie er ihm zuzwinkerte. Niedlicher Knirps. Er wollte es seiner Mutter reichen, aber die Frau drehte sich ruppig fort.
»Und wie soll es heißen?«, fragte er, um seine Verärgerung zu verbergen.
»Marsilius, nehme ich an. So heißen die Söhne in dieser Familie.«
»Nun, es ist ein Mädchen.«
Die Frau schwieg verblüfft, und einen Moment meinte er etwas wie Unsicherheit in ihren Zügen zu entdecken. Doch dann kehrte die alte Gleichgültigkeit zurück. »Ihr versteht das nicht.«
»Was verstehe ich nicht?«
»Das Kind.«
» Was verstehe ich nicht an dem Kind?« Wieder fiel ihm auf, wie herrgottserbarmungswürdig jung die Frau noch war. Er bemühte sich, sanfter zu sprechen. »Was ist denn mit ihr?«
»Die Nacht«, sagte sie. »Es war kalt in der Nacht, in der sie gezeugt wurde. Die Gäste sind in ihre Kammern gegangen. Einige sind im Saal geblieben, weil sie sich unter die Tische getrunken hatten. Meine Eltern waren da. Meine Mutter hat mir noch zugeflüstert, was ich machen soll, als Marsilius sich
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