Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Obstgarten hinausging. Die späten Kirschen hingen dunkelrot in den Bäumen. Pflückkörbe standen darunter. Eine Schildkröte, die Christine gehörte, kroch über das gepflasterte, schattige Eckchen, wo Mutter Stühle und Tische hatte aufstellen lassen. Jürgen war zu hören, der irgendwo weinte, aber sie konnte weder ihn noch seine Großmutter, die ihn tröstete, entdecken.
Ich will hierbleiben, dachte Sophie sehnsüchtig. Würde Marsilius sich vielleicht zufriedengeben, wenn er Henriette bekäme? Sie hasste sich für diesen Gedanken. Auch wenn ihr Kind verflucht war – es der Hexe Edith auszuliefern war eine schreckliche Vorstellung. Wenn es doch nur ein Sohn wäre! Einen männlichen Erben würde Marsilius wie seinen Augapfel hüten. Doch eine Tochter war ein lästiges Nichts, das verheiratet werden musste und den Besitz schmälerte. Wenn dem Mädchen etwas zustieße, würde ihn das kaum kümmern.
Aber das waren nutzlose Gedanken, denn natürlich würde Marsilius darauf bestehen, dass auch seine Frau ihm folgte. Er würde Sophie so bald wie möglich ein zweites Mal schwängern, um endlich den ersehnten Stammhalter zu bekommen. Ihr wurde übel, als sie daran dachte.
Die Tür ging auf, und Mutter kam mit Christine und Jürgen im Schlepptau herein. Voller Stolz erzählten die beiden, dass der Junge sein erstes Wort gesprochen habe. Biss – der Name von Ursulas Schoßhund. Sophie murmelte etwas, von dem sie hoffte, dass es nach Begeisterung klang, und hörte zu, wie Ursula und ihre Schwester sich miteinander unterhielten.
»Du wirst das Henriettchen aber nicht mehr lange pucken. Sobald sie aufhört, sich über ihre zappelnden Händchen zu erschrecken, kommen die Wickelbänder herab!«, bestimmte Mutter, während sie Jürgen auf den honiggelben Dielen absetzte und sich dem zweiten Enkelkind zuwandte. Zärtlich hob sie das Bündelchen an. »Was für ein Näschen, so ein niedliches … Nein, du duscheldutt, dududutt …« Sie streckte das Kinn vor, während sie mit der Kleinen schäkerte. »Sie hat deine Nase, Sophie. Sieh doch nur. Aber was die Wickelbänder angeht …«
Mutter hatte während ihrer letzten eigenen Schwangerschaft von einem Wundarzt namens Felix Würtz gelesen, der fand, dass Säuglinge am besten gediehen, wenn man sie nackend strampeln ließ. Ein ständiges Thema unter den Frauen im Haus.
»Du hörst mir ja gar nicht zu!«, bemerkte Ursula.
Widerstrebend nahm Sophie ihrer Mutter das Kind ab, das sie ihr hinhielt.
»Greife fester zu. Sie muss sich sicher fühlen!«
Aus dem Augenwinkel sah Sophie, wie Christine Jürgen auf den Arm nahm und auf Zehenspitzen mit ihm das Zimmer verließ. Sie ging selbst zum nächsten Stuhl und ließ sich darauf nieder. Mit dem Gewicht in den Armen begannen die kaum verheilten Geburtsverletzungen wieder zu schmerzen.
»Zum Glück ist sie gesund, trotz deines unbesonnenen Verhaltens. Wie konntest du nur einfach fortlaufen. Ihr hättet beide sterben können!«, klagte Mutter. Die eigene Vermutung war in ihren Augen zu einer unbestreitbaren Tatsache geworden. »Welch ein Segen, dass Herr Drach euch fand. Ich habe eine Kerze in der Kapelle entzündet, um dem Allmächtigen dafür zu danken. Das hättest du auch tun können.«
Sophie nickte mechanisch.
»Wir können nur hoffen, dass dein Ehemann dir dein … dein schockierendes Benehmen verzeihen wird.«
Wieder nickte Sophie.
»Natürlich habe ich ihm in dem Brief erklärt, dass solch ein merkwürdiges Verhalten unter der Geburt gar nicht selten vorkommt. Viele Frauen, besonders wenn sie schmal gebaut sind, verlieren vor Schmerzen kurzzeitig den Verstand.« Mutter nahm ihr Henriette ab und strich dem Mädchen über die rosige Wange. »Ich verlasse mich darauf, dass du nicht weiter darauf beharrst, deinen Fieberwahn mit etwas wirklich Erlebtem zu verwechseln. Eine Hexe! Weißt du eigentlich, was du Marsilius vorwirfst? In welches Licht du ihn setzt? Ein Mann, der eine Hexe unter seinem Dach duldet …« Ursula holte Luft, bevor sie weitersprach. »Was, wenn man ihm vorwirft, ebenfalls ein Hexer zu sein? Du könntest deinen Ehemann ruinieren, wenn du diesen Verdacht in die Welt streust. Ist dir das klar? Er hat viele Feinde. Es mag ja sein, dass er schwach geworden ist, als das Weib zurückkam. Vielleicht hat er sie wieder in die Burg gelassen. Aber alles andere hast du dir nur eingebildet!«
Sie setzte sich neben ihre Tochter und drückte Henriette einen Kuss auf die Wange. »Ach, Kind. Es sah so aus, als
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