Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
wieder. Es machte keinen Unterschied. Gereizt schüttelte er ein Insekt ab, das gemächlich über seinen Handrücken kroch.
Und dann hörte er endlich Schritte.
In der ovalen Öffnung, hinter der der Stollen aufwärts führte, erschien Niclas, ein Gauner, dem sie aus unerfindlichen Gründen den Spitznamen Zaunkönig gegeben hatten und der wegen einer bösen Erkältung nicht mit auf ihre Streifzüge gehen konnte. Die Fackel, die er trug, beleuchtete seine pummelige Gestalt mit dem schütteren, feuerroten Haarschopf. Er hatte sich in sämtliche Hemden und Wämser, die er an sich raffen konnte, gehüllt und trug mindestens zwei Paar Hosen. Bibbernd stapfte er durch das gelb glänzende Wasser, das unter seinen Füßen zu einem natürlichen Trichter floss, der es seinerseits in einen kleinen Höhlensee beförderte. Mit der freien Hand war er damit beschäftigt, seine Gürtellasche in die Schnalle zu nesteln.
»Der Trommelschlag ist die Tanzmusik des Teufels. Und das Schlachtfeld ist seine Tenne, und die Söldner sind seine Tanzburschen und die Trosshuren die Dorfmaiden«, philosophierte er, während er die Fackel im Spalt eines geborstenen Felsblocks festklemmte. Der Krieg war das Thema, das ihn beschäftigte. Man konnte von der Liebe reden, von Zolltarifen, von Blattläusen oder der Verdauung – am Ende landete er immer bei seiner Söldnervergangenheit. Es war so nervtötend wie das ferne Klopfen und das ständige Rauschen des Wassers.
»Die Kanonen sind sein Ballspiel und das Mündungsfeuer seine Festbeleuchtung«, erklärte er und versetzte Julius einen gleichgültigen Tritt, als er an ihm vorbeikam. Dann machte er es sich auf einem troddelbehangenen Kissen, das er von einem der Raubzüge mitgebracht hatte, bequem und häufte Decken über sich.
Julius, der seine Augen gierig über die Wände und den Boden seines Gefängnisses schweifen ließ, als müsste er die Bilder für die nächste Phase der Dunkelheit aufbewahren, dachte, dass er sich wahrhaftig in einer Räuberhöhle befand. Er hatte keine Ahnung, was Marx’ Männer anstellten, wenn sie ihr Schlupfloch verließen, aber sie kehrten jedes Mal mit nützlichen Dingen wie Fässchen voller Lampenöl, eisernen Pfannen, Messerschleifern, Gewürzsäckchen, wollenen Bettstrümpfen und Tiegeln mit Salben gegen Krätze und Lausbefall zurück. Es war wie bei Aladin. Nur glitzerndes Edelmetall suchte man hier vergebens. Das verschwand wahrscheinlich sofort in Marx’ Tasche.
Die Höhle, in der die Bande ihr Lager aufgeschlagen hatte, war Teil eines Bergwerks. Er wusste, dass sie am Ende eines Nebenstollens lag, der früher einmal als Wasserlösungsstollen gedient hatte. Das Grundwasser, das sich in den Gängen sammelte, floss über diesen Stollen in den kleinen, schwarzen Höhlensee, an dessen Ufer man Julius abgelegt hatte. Er nahm an, dass es von dort irgendwohin versickerte, aber das war nur eine Vermutung. Er verstand nichts vom Bergbau. Einer der Männer hatte erzählt, dass der Nebenstollen während eines Unwetters geflutet worden war und etliche Bergleute in den Tod gerissen hatte, worauf man ihn zumauerte. Marx hatte diesen Zugang entdeckt und die Mauer wieder einreißen lassen und es sich mit seinen Leuten in der Höhle gemütlich gemacht.
Er war bei dem Brand auf dem Hof selbstverständlich nicht umgekommen. Dass sich seine Ahnung bestätigt hatte, bereitete Julius immer noch ein tiefes Gefühl der Befriedigung. Nun sah er mit knurrendem Magen zu, wie der Zaunkönig eine Blutwurst herauskramte und hineinbiss. Gereizt zwang er sich, den Blick fortzuwenden. »Wann kommt er endlich?«
»Wer denn?«, fragte der Zaunkönig scheinheilig. Seine Zähne waren sämtlich verfault. Er musste die Blutwurst abnagen und mit dem Kiefer weich nuckeln, ehe er sie schlucken konnte. Es war widerlich mit anzusehen. Der Mann wartete, dass Julius sich erklärte. Als sein Gefangener schwieg, meinte er achselzuckend: »Wenn du nich reden willst, dann halt die Schnauz!«
Julius starrte verdrossen zum See. Das Wasser glänzte wie Rabengefieder. Manchmal konnte er sehen, wie sich die Wasseroberfläche kräuselte, als gleite darunter ein Fisch. Grottenolm – woher kam ihm nur dieses Wort? Gab es solche Tiere? In seinem Kopf formte sich das Bild eines farblosen Riesenwurms. Er musste davon gelesen, möglicherweise eine Zeichnung gesehen haben. Maria und Josef, wen interessierten Grottenolme! Ihn ekelte vor dem schwarzen Wasser, das zu trinken er genötigt war, weil man ihm nichts
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