Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
trotzdem versucht hast, mich zu finden. Was willst du? Geht es dir um den Brief?«
Julius fühlte, wie sein Herz einen Sprung tat. Er hatte also richtig getippt: Das Schreiben, von dem Elisabeth gesprochen hatte, spielte eine Rolle – wenn er auch keinen blassen Schimmer hatte, welche und in was für einem Spiel. »Was stand darin?«
»Das weißt du nicht?«
»Würde ich sonst fragen?«
»Aber du weißt von seiner Existenz.«
Julius packte die Kralle. Die vernarbte Haut fühlte sich an wie Meeressand bei Ebbe, sonderbar und abstoßend. Er beförderte sie von seinem Bein und drehte sich zu Marx, was wegen der Fesseln nicht ganz einfach war. »Ich weiß überhaupt nichts! Deshalb bin ich hier. Um zu erfahren, was Heinrich ins Verderben gerissen hat. Welcher Mistdreck war im Gange, Marx? Es ging um Wallenstein, nicht wahr? Hast du Heinrich umgebracht, um deinen verdammten Generalissimo zu schützen? Oder war’s Rache, weil es dich kränkte, dass der Junge dir nicht mehr wie ein Kätzchen folgte? Einfach ein böser Impuls?«
Marx zog die Knie an, legte die Arme darum und starrte ins Leere. Eine Fledermaus segelte durch die Höhle und warf einen riesigen schwarzen Schatten an die Felswand. Eine Welle schwappte aus dem Höhlensee gegen den Fels. »Julius«, sagte er schließlich, »warum bist du wirklich hier?«
utter, die immer alles richtig machte und über alles Bescheid wusste und sich nie versah – Mutter hatte sich geirrt. Lucia hatte Floisdorf, wo sie jahrzehntelang wohnte, verlassen. Sie war nicht etwa gestorben, was Sophie halb befürchtet hatte, sondern fortgezogen, und zwar mit einer Cousine, die von fern aus Dortmund gekommen war. Niemand konnte ihr sagen, wo sie nun wohnte. Vor Lucias Fortgang hatte es aber offenbar einen Streit um eine Heuwiese gegeben, denn als Sophie sich in Floisdorf umhörte, bekam sie viele unfreundliche Bemerkungen zu hören. Nun stand sie vor Lucias ehemaligem Haus mit dem tief gezogenen Strohdach und den grünen Fachwerkbalken, und ihr war, als liefe alles, was sie noch an Kraft besaß, aus dem Körper heraus.
»Ist noch gar nicht so lange her, um die Osterzeit«, gab die mollige Frau, die das Haus nun mit ihrer Familie bewohnte, mitleidig Auskunft. Sie sah Sophies tränenloses Entsetzen, nahm ihr wortlos Gotteswinds Zügel aus der Hand, band das Tier im Garten an und brachte die Besucherin ins Haus. Es roch nach frischem Brot. Zwei Kinder krabbelten in sauberen Kitteln auf dem Boden. Die Frau kochte einen Bohnenbrei und erzählte noch einmal von der Heuwiese, die in diesem Sommer mit Gerste bebaut wurde, weil das einen viel besseren Ertrag brachte. Sie nötigte Sophie die Bohnen und dazu Stockfisch auf und dann einen Platz in ihrem Bett, denn es war Abend geworden, und ihr Ehemann besuchte seine Mutter.
»Ihr ruht Euch aus, und morgen sehen wir weiter.«
Überwältigt von so viel Güte und viel zu erschüttert, um einen eigenen Entschluss zu fassen, stimmte Sophie zu. Als sie die gastfreundliche Stätte am nächsten Tag verließ, drängte sie der Frau den Ring auf, den Marsilius ihr gegeben hatte. Sie gab zu viel, viel zu viel, das wusste sie, aber etwas anderes besaß sie ja nicht, mit dem sie ihr hätte danken können.
Immer noch wie betäubt von dem, was ihr geschah, stieg sie auf den Rücken des Pferdes. »Nach Dortmund sind es vier oder fünf Tagesreisen – das ist gut zu schaffen«, meinte ihre Gastgeberin aufmunternd. »Folgt der Straße wenigstens einen Tag lang bis nach Zülpich.«
Sophie nickte. Sie ritt wie in Trance durch Dörfer und zwischen Stoppelfeldern, die von der Herbstsonne beschienen wurden und wie riesige goldene Igel aussahen. Gotteswind stapfte voran und hielt nur selten inne, um etwas Gras vom Wegrand zu rupfen. Sophie ließ ihn gewähren. Erst gegen Mittag, als sie einen etwas größeren Ort erreichte und auf dem Dorfplatz auf einer Bank Rast machte, begann sie über ihre Lage nachzudenken. Sie kannte von Lucia nur den Vornamen. Wie sollte sie die Frau in einer riesigen Stadt wie Dortmund finden – falls sie überhaupt dorthin gezogen war? Das hatten die Dörfler ihr ja gar nicht mit Gewissheit sagen können. Sophie war nicht einmal mit Lucias Aussehen vertraut. Sie hatte die Tochter von Mutters Kinderfrau vielleicht zwei- oder dreimal in ihrer eigenen Kindheit gesehen und erinnerte sich an eine dürre, etwas mürrische Gestalt, die häufig an einem Schluckauf litt. Das half doch gar nicht.
Also zurück nach Breitenbenden zu den
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