Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
ihr unmöglich, still zu stehen. Ihre Schuhe wühlten das Laub auf, als sie aufgeregt hin und her marschierte. Die Nachtvögel warnten einander. Der Puls der Natur schlug so schnell wie ihr eigener. Als Marx auf sie zutrat und sie bei den Armen packen wollte, schlug sie seine Hände fort. Marsilius würde jeden Moment da sein.
»War es so schlimm?«
Von einem Mann geküsst zu werden, damit ein anderer Mann sich gedemütigt fühlte? Sie schluckte hinunter, was sie sagen wollte, und starrte zu den Sträuchern, hinter denen der Weg lag.
»Dann tut’s mir leid.«
»Tut es nicht.«
»Na ja …«
Warum nicht auf der Stelle fortlaufen? Das würde ihre Aussicht zu überleben entschieden vergrößern. Aber vielleicht verfolgte Marx Absichten, die sie noch gar nicht durchschaute? Vielleicht gab es ja immer noch Hoffnung?
»So setz dich doch endlich.«
Natürlich tat sie es nicht. Und am Ende irrten sie alle beide. Die Nacht verging, ohne dass Marsilius oder irgendein Mensch sich blicken ließ. Der Morgen brach an. Die Sonne war riesig, aber blass wie der Mond. »Der Kerl hat keine Eier«, kommentierte Marx.
»Es ist kein Wunder, dass er sich nicht hinausgetraut hat. Er hat gesehen, wie du in das brennende Gehöft gerannt bist – und trotzdem lebst.« Sophie erhob sich und sah ihrem blonden Begleiter müde und frierend zu, wie er nun selbst das Feuer austrat und die Asche mit Blättern zuscharrte. »Wie hast du das gemacht?«
»Was?«
»Wie bist du lebend aus den Flammen gekommen?«
Er zog den Sattelgurt fest, schlecht gelaunt, zum ersten Mal, seit sie mit ihm zusammen war. »Steig auf. Jetzt wird es heikel.«
»Du benutzt den Teufel nur«, sagte sie. »Du zückst ihn wie eine Karte in einem Spiel. Aber das wird er dir nicht durchgehen lassen. Er hat dich fester in der Hand, als du glaubst. Und wenn der Zahltag kommt, wird er dich büßen lassen.«
Marx ging davon aus, dass Marsilius seine Männer bei Tagesanbruch unter einem Vorwand losscheuchen würde, um sie zu jagen. Also hetzten sie ihre Pferde über schmale Waldpfade, um das Wildenburger Gebiet möglichst rasch zu verlassen. Sophie war wie zerschlagen vor Enttäuschung. Henriette blieb hinter ihr zurück. Und wenn sie überhaupt etwas erreicht hatte, dann nur, dass Marsilius die Tochter seiner Frau noch mehr verabscheute. Wenn er ihr nun etwas antat!
Sie verließen den Wald und galoppierten über ein Feld, auf dem noch ein Schimmer Raureif lag. Dahinter begann bereits das nächste Waldstück. Als sie die Bäume erreichten und der Pfad sich anhob und verengte, drängte Sophie ihr Pferd an Marx’ Schimmel vorbei und hielt ihn auf. »Wohin wollen wir denn jetzt?«
Er brummte etwas.
»Das habe ich nicht verstanden.«
»Vor allem erst mal fort.«
»Und danach? Behandle mich nicht wie ein Kind. Sag mir, was du vorhast, damit ich weiß, ob ich mitkommen will. Es ist mein Leben. Du spielst mit meinem Leben. Und mit dem meiner Tochter!«
Marx drängte sein Pferd an ihrem vorbei und ritt weiter, wenn auch etwas langsamer.
Kalt vor Wut und Hilflosigkeit, folgte sie ihm. Als sie an eine provisorische Brücke kamen, die vielleicht von Holzfällern errichtet worden war, glitt er aus dem Sattel. Unsicher drehte er sich um sich selbst, starrte den herbstlichen Wald an, fuhr mit allen zehn Fingern durch die Haare, zwinkerte aus übermüdeten Augen … Er war blass und erschöpft, aber das war er oft gewesen. Doch plötzlich war etwas anders. Und weil sie so verzweifelt war, begriff sie auch, was sich verändert hatte: Marx verlor ebenfalls die Hoffnung. Er war auch nur ein Mensch. Und er wusste nicht weiter.
Sie rutschte vom Pferd. Tränen rannen ihr kitzelnd aus den Augenwinkeln. »Ich will zu Henriette«, brachte sie kläglich heraus.
»Und dich auspeitschen lassen? Bestenfalls?«
Er bereute die Worte sofort. Wortlos zog er sie an sich – und dann lagen sie im Moos. Was danach geschah, war gottlos und verwerflich. Sophie wusste, dass sie protestieren müsste. Aber sie war so müde und verzweifelt und dieser andere Körper das Einzige, was Wärme spendete. Es tat so gut, einen Menschen zu fühlen, in Armen zu liegen, die sie festhielten. Und es schien gar nichts falsch daran zu sein, als Marx’ Hände unter ihr Mieder glitten. Sie klammerte sich an ihn und erschauerte, als er ihre nackte Haut berührte. Er war stumm, und als sie kurz in sein Gesicht blickte, fand sie dort nichts als Anspannung. Sie waren verstört und suchten einander, voller Verlagen
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