Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
gießen.
Es wurde früh dunkel. Bald sah sie sein Gesicht nur noch als grauen Flecken, auf dem das Licht des Feuers tänzelte. »Und?«, fragte er, während das Blei in der Hohlkugel härtete und er sich gegen einen Baustamm lehnte und entspannt die Beine ausstreckte, »gar kein schlechtes Gewissen? Ich meine wegen Julius?«
»Warum sollte ich?«
»Frauen!« Er seufzte pathetisch. »Merkst du gar nicht, wie komplett du dem armen Kerl den Kopf verdreht hast? Er weiß ja schon nicht mehr, wohin mit seinen Gefühlen.«
»Frauen wie ich verdrehen Männern nicht den Kopf«, erwiderte sie schroff.
»Was habe ich übersehen? Eine Warze auf der Nase oder einen Buckel?«
Verärgert wandte sie sich ab. Sie hatte schon vor Marsilius gewusst, dass sie eine blasse Person war, die von Männern nicht begehrt wurde. Julius trieb sein christliches Pflichtgefühl an. Nachdem er einige Tage bei ihren Eltern verbracht und somit zu einem Bekannten der Familie geworden war, war es für ihn eine Frage des Anstandes, dass er die Tochter des Hauses heimbrachte. Kopf verdrehen! Auf Geschwätz wie dieses konnte sie verzichten!
Marx öffnete die Kugelzange und untersuchte die Kugel, während Sophie weiteres Holz nachlegte. Es war mühsam, das Feuer in Gang zu halten, denn der Boden war pitschnass. Sie musste an die brennenden Büsche vom Morgen denken. Das Feuer war auf keinen Fall durch ein Missgeschick ausgebrochen, darin musste sie Marx recht geben. Jemand hatte die Büsche angezündet. Unauffällig hielt sie nach einem Vogel oder einem anderen Waldtier Ausschau, das sich merkwürdig verhielt, aber sie konnte nichts entdecken.
Fröstelnd stand sie auf, kletterte den Hang hinauf und ging die wenigen Schritte zu der Stelle, von wo aus sie die Wildenburg sehen konnte. Aus dem Obergeschoss des Wohntraktes drang jetzt heimeliges Licht. Saß Marsilius mit seinen Mannen beisammen und trank und verfluchte die Frau, die ihn in Schande gebracht hatte?
Wo mochte Henriette sein? Sophies Blick ging zum Hexenturm. Im Obergeschoss, in dem sich die Wachleute wärmten, brannten Fackeln. Das Untergeschoss besaß keine Fenster. Sie schlang die Arme um die Brust und kehrte zu ihrem eigenen Lager zurück. »Worauf warten wir denn?«
Marx, der gerade die Kugelzange sauber wischte, blickte auf. »Hat der Mond schon die Spitze des Hexenturms erreicht?«
»Was weiß ich? Nein. Nein, er steht ein Stück davor.«
»Dann ist noch Zeit.«
»Wofür?«
»Jagen Werwölfe nicht um Mitternacht? »
»Redet keinen Blödsinn«, fuhr sie ihn an. »Ich habe Euren Pelz untersucht. Er war aus Fellen zusammengenäht!«
»Tatsächlich?« Marx ließ die Kugelzange in das Säckchen mit den Kugeln gleiten, stand auf, schnappte sich einen Beutel, der neben dem Sattel lag, und kletterte den Hang hinauf. Sie folgte ihm, bis sie wieder die Schlucht erreichten. In Marsilius’ Kammer war ein Licht entzündet worden, woanders welche erloschen. Das Gesinde hatte sich wohl zu Bett begeben.
»Was willst du eigentlich genau?«, fragte Marx, während er zur Burg blickte. »Rache?«
»Ich will mein Kind zurück.«
»Das glaub ich dir nicht.«
»Warum?«
»Weil …«, begann er aufzuzählen, »es von Marsilius ist, den du hasst. Weil du noch ein Dutzend Kinder gebären kannst. Weil du es bei deiner Flucht zurückgelassen hast.«
»Davon verstehst du nichts!«
»Geht es dir um Rache an der Hexe oder um Rache an deinem Mann?« Als sie nicht antwortete, meinte er mit einem leisen Lachen: »Um die Hexe, nicht wahr? Sie hat dir den Mann und die Zukunft gestohlen und …« Er holte Luft. »Gott, ja, die Frau ist schön! Ich habe sie nackt gesehen, weißt du das? Sie ist von Kopf bis Fuß ohne Makel.«
»Du hast sie …?«
»Nackt, wie der Teufel sie erschuf. Aber bevor du nach züchtigen Worten kramst, die Unzüchtiges beschreiben könnten: Sie hatte kein diesbezügliches Interesse an mir. Komm, Hänfling.«
Verwirrt folgte sie ihm einige Schritte und grübelte über seine Worte nach. Was hieß das: Sie hatte kein Interesse an mir? Sophie stellte sich den blonden Mann im Hexenturm vor. Marsilius nahm ihn sich vor, um ihn zu quälen, und Edith schaute dabei zu. Dann ging der Burgherr hinaus … Sophie wurde bis über die Ohren rot, als sie sich vorstellte, was ein verkommenes Weib einem gefesselten Mann alles antun konnte, um ihn zu demütigen. Nur hatte Marx ja gesagt, Edith habe sich diesbezüglich nicht für ihn interessiert. Aber weshalb hatte sie sich dann entkleidet?
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