Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
»Herr, Allmächtiger, Heinrich!«
»Bitte?«
Sophie schüttelte den Kopf, während ein unglaubliches Szenario in ihrer Fantasie Gestalt annahm. Der tote Heinrich lag in seinem Sarg, und Edith … Nein, dachte sie, der Ermordete war in der Kapelle aufgebahrt gewesen, und dort hätte Edith ihn nicht angerührt. Sich vor dem Angesicht des Herrn an einem Toten zu vergehen – das hätte nicht einmal sie gewagt. Aber halt! Hatte Marsilius nicht davon gesprochen, dass er dem Mörder ein Geständnis entlocken wollte, indem er ihm sein Opfer zeigte? Hieß das, der Sarg hatte im Hexenturm gestanden? Eine Nacht vielleicht? Und Edith …? Ihr wurde übel.
Heinrich war in der geweihten Erde des Wildenburger Friedhofs bestattet worden. Dort hätte er bis zur Auferstehung ruhen können. Und trotzdem hatte Marx die Leiche gestohlen. Um sie auszuweiden und stückchenweise an die Apotheker zu verkaufen, hatte Marsilius behauptet. Aber das glaubte sie nicht mehr. Wenn jemand Leichen für widerliche Praktiken benutzte, dann war es Edith. Gott steh uns bei, dachte sie, während sie vor Ekel stolperte. Das war es, was die beiden verband: die Hexe und den Leichendieb. Eine entsetzliche Stunde, in der Edith den toten Jungen schändete. Sie hielt Marx am Ärmel fest. »Hast du Heinrich umgebracht?«
Er drehte sich zu ihr. Sein Gesicht hob sich scharf gegen das Mondlicht ab. Bevor er sprechen konnte, schüttelte sie den Kopf. »Nein. Nein, du warst es nicht. Nicht einmal Julius glaubt das wirklich. Aber wer hat es dann getan?«
»Julius wird doch nicht müde, es uns auseinanderzudröseln. Heinrich hat geheime Jesuitenkorrespondenz befördert und deshalb hat ihm jemand … vielleicht nicht gerade ich, aber ein anderer Narr, der Wallenstein verehrt, den Garaus gemacht.«
»Aber du glaubst das nicht. Und darum musst du in die Burg: weil Marsilius Bescheid weiß. Weil er den wahren Mörder kennt. Der Müller ist von Marsilius gedungen worden, dich des Mordes zu beschuldigen und von den wahren Gründen für die Tat abzulenken«, fabulierte Sophie, die neben ihm herlief. So musste es gewesen sein. Und deshalb hatte Marx sich auch an ihm und seiner Familie gerächt, was schrecklich war, besonders, wenn man an die Kinder dachte. Aber … »Was steht in dem Brief?«
Er blieb stehen, weil sie ihm den Weg verbaute. »Du weißt es wirklich nicht!«, erkannte sie.
»Das ist …«
» … der Grund, warum du in die Burg hineinmusst.«
»Herrgott, wo hast du nur dieses Mundwerk her?«
»Wir wollen also doch hinein!«
»Wo wir doch beide festgestellt haben, dass es unmöglich ist! Komm dort rüber!« Sie hatten eine Klippe erreicht, die weit in die Schlucht hineinreichte, als wäre es der Rest einer zerbrochenen Brücke. Die Wildenburg war ihnen hier noch näher gerückt, nur hatte sich die Perspektive verändert. Vor ihnen lag jetzt, getrennt durch das enge, tief eingeschnittene Tal, der Wohnturm.
»Marsilius ist in seiner Kammer«, flüsterte Sophie. »Dort oben, siehst du?« Die Fensterläden waren weit geöffnet und die beiden Bogenfenster von gelbem Kerzenschein erleuchtet. Sie sah eine Gestalt, die sich schleppend durch den Raum bewegte. Ihren Ehemann. Sie konnte sogar seine Gesichtszüge erkennen. Marsilius war müde. Er hielt sich an einer Stange des Betthimmels fest, um sich einen Schuh auszuziehen.
»Halte das mal«, sagte Marx.
Sophie drehte sich zu um und nahm verblüfft einen Ast entgegen, den er von den Zweigen befreit hatte. Innerhalb weniger Augenblicke hatte Marx auf dem Boden etwas Birkenzunder entflammt und brachte die Astspitze zum Brennen. Nun hatte Sophie eine Fackel in der Hand.
»Was soll das? Man wird uns sehen!«
»Hoffentlich.« Marx zog eine Pistole aus dem Gürtel und danach ein Tuch, in dem Pfeile eingeschlagen waren. Einen davon spannte er in den Pistolenlauf. Eine Pfeilschusspistole. Sophie hatte von solchen Waffen gehört, aber nie eine gesehen.
»Was …«, setzte sie an.
»Moment.« Er hob den Arm und zielte versuchsweise auf das Fenster.
»Du willst Marsilius umbringen.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das schaffst du nicht. Nicht einmal der Teufel könnte aus dieser Entfernung einen Menschen treffen. Selbst wenn Marsilius am Fenster stünde, wäre es unmöglich.«
»Und mit einem Pfeil schon gar nicht, weiß ich selbst.« Marx drückte ihr die Pistole in die freie Hand, entstöpselte ein Döschen und zog einen Lappen heraus, von dem ein durchdringender Gestank nach Schwefel ausging.
»O
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