Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
und sah zu Boden.
»Nichts«, hauchte sie tonlos.
Lorenz wusste nicht, ob er zu weit gegangen war.
Die Stille zwischen ihnen wurde nur unterbrochen vom gleichmäßigen Gesang der Wintervögel.
Was hatte er erwartet? Vor nicht mal zehn Minuten hatte er sich vor den Augen einer
Dame übergeben, war ungewaschen und stank nach Alkohol. Er konnte dankbar sein,
dass sie ihm überhaupt diese paar Minuten Aufmerksamkeit schenkte. Unsicher wandte
er seinen Blick ab, machte die ersten Schritte in Richtung des Weges.
»Lorenz, wartet.«
Ihre Blicke trafen sich. Aus ihren Augen sprachen Fragen, die ihr Mund
nicht zu stellen wagte. »Ihr seid hier, um Euch freiwillig für die Schlacht zu melden?«
»Ja, so ist es.«
»Warum tut Ihr das?«
Es war genau diese Frage, die er sich selbst seit Tagen gestellt hatte.
Waren die Beweggründe von Jakob und Ratte nur allzu nachvollziehbar und menschlich,
blieben ihm seine eigenen verborgen.
»Weil es das Richtige ist«, sagte er schließlich. »Ich habe hier Familie,
Freunde, eine Heimat. Alles Dinge, die es zu beschützen lohnt.«
Diese Antwort mochte Antonella zufriedenstellen, ihn selbst allerdings
nicht.
»Ihr habt recht, Lorenz, wahrscheinlich sind es wirklich gute Gründe,
um in eine Schlacht zu ziehen.« Ihre Stimme war brüchig, ein weiteres Mal wich sie
seinem Blick aus.
»Antonella, Ihr sagt es, als wäre Euch die Bedeutung dieser Wörter
unbekannt.«
»Nein, nein«, flüsterte sie mehr zu sich selbst, in ihre eigenen Gedanken
versunken. »Nicht unbekannt … eher fremd.«
Lorenz legte den Kopf zur Seite und machte einen Schritt auf sie zu.
»Wie meint Ihr das?«
Unruhig wanderte ihr Blick von ihm zum Boden und zurück. Ihre Lippen
kräuselten sich. Lorenz erkannte, wie sehr sie mit sich kämpfte. Die Frage, die
er gestellt hatte, wäre lieber unausgesprochen geblieben. Überhastet lief sie zu
ihren Reagenzien und packte alles eilig zusammen.
»Entschuldigt vielmals …«, presste sie hervor. »Entschuldigt, das sind
nur die Worte eines dummen, undankbaren Kindes. Ich wollte nicht …«
Bevor sie den Satz beendete, hatte sie ihre Habseligkeiten bereits
in ihren Rock gewickelt und die ersten Schritte in den Garten des Bürgermeisters
hinter sich gebracht.
Überrascht setzte Lorenz ein paar Schritte hinter ihr her. »Antonella.
Jetzt bitte ich Euch zu warten.«
Den Rücken zu Lorenz gewandt, blieb sie ruckartig stehen.
»Bitte sagt mir, wie Ihr das meint. Was ist Euch fremd?«
»Das ist unbedeutend. Alles unwichtige Kleinigkeiten.«
»Wisst Ihr, ich bin Schmied, stelle Degen, Rüstteile und Musketen her.
Ich habe gelernt, dass es gerade die Kleinigkeiten sind, denen viel zu wenig Gewicht
beigemessen wird. Wenn bei einer Muskete der Hahn nicht richtig eingespannt ist,
hat er zu wenig Anlaufstrecke für die Funkenbildung. Dann ist die Waffe nutzlos.«
Nur zaghaft drehte sich Antonella um, lauschte seinen Worten.
»Und genau so ist es mit allen anderen Dingen im
Leben. Wenn auch nur eine Kleinigkeit nicht stimmt, führt es meist zu großem Unheil.
Deshalb sollte man dem vermeintlich Unbedeutenden ebenfalls Aufmerksamkeit schenken.«
Sie schien jedes seiner Worte verschlungen zu haben
und trat langsam näher. Lorenz fuhr sich durch seine kurzen Haare und schaute sie
bittend an. »Möchtet Ihr mir nicht sagen, was Euch bedrückt?«
Ein flüchtiges Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Bitte setzt Euch, Lorenz«, deutete sie mit einer Handbewegung. Als
die beiden auf der dicken Wolldecke Platz genommen hatten, blickte Antonella in
die Sonne.
»Kennt Ihr das Gefühl, etwas zu vermissen, obwohl Ihr gar nicht wisst,
was es ist, weil Ihr es noch nie erfahren durftet?«
»Ihr redet von Verlangen?«
Ruhig strich Antonella mit der Hand über das noch nasse Gras und befühlte
die Tropfen, die an ihr haften geblieben waren. »Ich rede von der Sehnsucht nach
dem Unbekannten.«
Lorenz wusste nicht, wie er diese Aussage einzuordnen
hatte. »Ihr habt Verlangen nach etwas. Doch was ist es?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Vater, also der edle Bürgermeister,
war so gütig mich aufzunehmen, als meine Eltern vor langer Zeit starben. Ich habe
sie nie kennengelernt.«
»Und Ihr würdet gern wissen, wie sie waren?«
»Versteht mich bitte nicht falsch. Ich habe in Elisabeth eine Schwester
und im Herrn Bürgermeister einen Vater gefunden. Sie haben mir unendliche Güte und
Herzlichkeit zuteil werden lassen und trotzdem …«
»… vermisst Ihr etwas«, beendete Lorenz
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