Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
Voller Trauer erinnerte sie sich
an die vergangene Zeit mit ihrer Schwester, wie sie zusammen lachten und damals
als Kinder zusammen gespielt hatten. Der Gedanke ließ die Tränen ein weiteres Mal
wie Bäche aus ihren Augen fließen. Ihr Blick verschwamm, genau wie die Hoffnung,
sich jemals mit Elisabeth aussöhnen zu können. Nur mit Mühe gelangte sie ans Fenster
und blickte schluchzend hinaus auf die Straßen Kempens. Beobachtend, wartend, weinend.
Jeder Passant wurde genau in Augenschein genommen und jedes Mal, wenn ein Gesicht
um die Straße bog, hoffte sie inständig, dass sie die schwarzen Haare von Lorenz
erblickte. Vergebens. So vergingen die Stunden einsam. Irgendwann legte sie sich
auf ihr Bett und lauschte ihrer eigenen Atmung. Nur allmählich schien sich die Stille
über den Raum zu senken. Sie drehte sich zur Seite und schloss die Augen. Mit der
Hand befühlte sie das weiche Kopfkissen und musste über sich selbst lachen, als
sie sich einzureden versuchte, dass sie durch Lorenz’ dunkle Haare kraulte. Sie
stellte sich den herben Duft seiner Haut, den Geschmack seiner Lippen, die Beschaffenheit
seines Gesichts vor, doch die Erinnerungen waren so weit weg. Es war wie ein wunderschöner
Traum, den man ein ums andere Mal versuchte, ins Gedächtnis zu rufen, und dessen
Erinnerung immer mehr verblasste. Antonella war wütend auf sich selbst. Als sie
die Lider öffnete, wünschte sie sich, dass sie in seine stahlblauen Augen blicken
könnte. Doch alles, was sie sah, war der strahlende Himmel an diesem kalten Wintertag.
Was er wohl genau in diesem Moment tat?
Das Gebrüll riss sie aus ihrem dämmrigen Schlaf.
Hatte sie das nur geträumt? Sie musste Stunden geschlafen haben, da die Dämmerung
bereits über die Stadt hereingebrochen war. Unsicher tastete sie sich zu der Kommode
und entzündete einige Kerzen. Nein, da war es wieder. Dieses Poltern und Schreien,
dieses Rumoren und tiefe Gebrüll. Zaghaft öffnete sie die Türe und ergriff den Kerzenhalter.
Ihr Schatten tanzte im fahlen Schein des Lichtes, als sie den Flur entlangschritt.
Die Angestellten schienen nicht mehr im Haus zu sein, genauso wenig wie Elisabeth.
Sie war die letzten Tage immer bis spät abends weggeblieben, und auch heute war
die Tür ihres Zimmers geöffnet, doch von ihr fehlte jede Spur. Barfuß schlich Antonella
die Treppen hinunter, genau darauf bedacht, kein Geräusch zu erzeugen. Durch die
dicken Wände erkannte sie nun die Stimmen. Ihr Vater und Sekretär Baier hatten zwar
häufig Auseinandersetzungen, doch diese klang anders. Sie konnte die Worte nicht
verstehen, aber beide Männer schienen sich in wilder Raserei Beschuldigungen an
den Kopf zu werfen. Kurz überlegte sie, ob sie nicht einfach den Weg nach oben antreten
sollte. Dann gab sich Antonella der Neugierde geschlagen. An die Wand gedrückt,
zog es sie immer mehr zum Büro ihres Adoptivvaters. Aus der offenen Tür schien Licht.
Die Schatten, die das Licht schimmernd auf den Flur warf, gestikulierten wild, mit
den Armen zu fuchteln und wild umherzugehen. Nein, beileibe war dies keine normale
Diskussion der beiden. Ängstlich blies Antonella beinahe alle Kerzen aus und ging
noch einige Schritte näher. Flach atmend, konnte sie nun einige Wortfetzen der beiden
verstehen.
»Ihr habt doch keine Ahnung, wie man eine Stadt führt, Baier!«
»Alles ist besser, als die wehrfähigen Männer fortzuschicken. Hört
Ihr! Ihr habt sie fortgeschickt! Mitten im Krieg, das ist Wahnsinn!«
»Dass die feindlichen Truppen vor der Stadt aufgehalten werden, hat
oberste Priorität.«
»Ihr seid ein Narr, Dannen! Oberste Priorität sollte für Euch die Verteidigung
Kempens haben. Die Männer hätten direkt in die Stadtwache eingegliedert werden müssen!«
Die Schatten schnellten aufeinander zu, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Und wie lange, meint Ihr, werden wir gegen diese Übermacht bestehen,
Baier? Ihr wisst selbst, dass Kempen verloren ist, sollten sich die Truppen hierhin
bewegen!«
»Ihr wisst nicht, wie man eine Stadt führt und erst recht nicht, wie
Ihr diese verteidigt«, zischte Baier.
»Aber Ihr wisst es natürlich.«
»Natürlich! In dunklen Zeiten heiligt der Zweck
die Mittel, Dannen! Wir müssen die Stadtwache verstärken und dann werden wir jeden,
der dieser Stadt gefährlich werden könnte, inhaftieren und verbannen. Jeder von
diesem Gesindel, das Gottes Zorn auf uns zieht! Schausteller, Lumpen und …«
»Sprecht dieses Wort nicht aus!«, befahl der Bürgermeister
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