Die Hexe von Hitchwick
freiwillig davon gelaufen. Wenn sie wirklich weggelaufen sein sollte, dann weil irgendetwas hinter ihr her war.
Es begann zwei, drei Wochen vor Jasmines Verschwinden. Zuerst hielten sich die Veränderungen in Grenzen.
Augenringe, Müdigkeit, Gereizt-S ein.
Sie schlief schlecht, so etwas kam vor.
Dann wurde es schlimmer. Jasmine wurde schreckhaft, geradezu ängstlich, sie suchte ständig die Nähe der Familie, gleichzeitig zog sie sich immer mehr in sich zurück.
Sie war nie aufgedreht, nie laut gewesen, allerdings auch nicht still und schon gar nicht in sich gekehrt.
Am Anfang fand Leonie das seltsame Verhalten ihrer Schwester irgendwie nervig. Sie wollte bis in die Nacht hinein mit ihr Kartenspielen, Filme schauen oder reden, wobei sich Jasmines Rolle dabei hauptsächlich aufs Zuhören und nervöses aus dem Fenster sehen beschränkte.
Es dauerte einige Zeit, bis das Genervt-Sein in Beunruhigung überging. Leonie dämmerte allmählich, dass sich ihre Schwester so seltsam verhielt, weil sie Angst hatte. Mehrmals hatte sie Jasmine gefragt, ob irgendetwas geschehen sei, ob ihr jemand Ärger machte, doch Jasmine antwortete immer nur mit Ausflüchten.
Er st als Leonie das Buch entdeckt hatte, begannen manche Dinge einen Sinn zu machen, auf eine merkwürdig, abstrakte Art. Aufschreie voller Schrecken mitten in der Nacht. Jasmines plötzliche Furcht vor der Dunkelheit. Und immer wieder die Frage: “Hast du das gehört?“
Hatte ihre Schwester wirklich Angst vor der Hexe von Hitchwick?
Wie konnte so etwas sein? Jasmines Verhalten bekam einen Sinn, allerdings entbehrte dieser jeglicher Vernunft.
Aus welchem Grund sollte Jasmine vor einer alten Legende Angst bekommen haben? Leonie hatte nicht die geringste Ahnung, doch es war alles, was sie hatte. Eine Geschichte, eine Geschichte, in der junge Mädchen verschwanden.
Ihre Gedanken waren so laut, so einnehmend gewesen, dass sie gleich einem Schlafwandler das Buch geholt hatte, ohne es wirklich wahrzunehmen.
Wort los streckte Leonie den Arm aus und übergab Morgan das Buch. Enttäuschung keimte in Morgan auf, als sie es in den Händen hin und her drehte. Ein Kunstledereinband verlieh ihm den Anschein von Alter, doch es war eindeutig neu. Morgan hatte mit faserigen Blättern, einer feinen verschnörkelten Schrift und einem Leineneinband gerechnet. Das weiße Papier, das ihr entgegen strahlte, als sie das Buch öffnete, zeigte als Erstes den Satz Chlorfrei gebleicht , dann erschien eine eindeutig weibliche Handschrift.
„Das ist die Schrift meiner Schwester, da bin ich mir vollkommen sicher, auch wenn sie etwas – gehetzt wirkt. Sie hat so etwas - von Hausaufgaben im Bus machen“, sagte Leonie und deutete mit dem Zeigefinger auf die Schrift.
„Willst du damit sagen, deine Schwester hat normalerweise noch ordentlicher geschrieben?“
„Ja. Unglaublich nicht wahr? Das ist schon kricklig für sie.“
„Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Geschichte von deiner Schwester ist.“
„Ist sie auch nicht!“
„Du hast doch gerade gesagt, es sei eindeutig ihre Handschrift“, hakte Morgan etwas irritiert nach.
„Das schon. Ich meine, sie hat die Geschichte geschrieb en, aber sich nicht ausgedacht. Jasmine liest gern, aber sie schreibt nicht. Sie schreibt keine Gedichte, keine Geschichten, sie schreibt nicht einmal gerne Geburtstagskarten. Diese Geschichte ist niemals von ihr“, erklärte Leonie, bezweifelte jedoch, dass der Sergeant sie verstand.
„Bist du dir da ganz sicher?“
Die Enttäuschung über das junge Alter des Buchs schwand.
„Ja!“
Es bestand die Möglichkeit einer heimlichen Leidenschaft Jasmines zum Schreiben, wenn es diese jedoch nicht gegeben hatte, dann waren die Aufzeichnungen von einigem Wert für den Fall.
Zufall? Auch in der Welt des Ordens gab es Zufälle.
Sug nahm das Handtuch von ihrem Kopf, der Nieselregen hatte sie ganz schön durchnässt, legte es über den Stuhl und schloss die Augen. Sie atmete tief durch und horcht in sich hinein.
Beunruhigung.
Sie öffnete die Augen und nickte bestätigend. Die alte Dame hatte ihren Namen genannt, im selben Augenblick war ein Gefühl der Beunruhigung in ihr aufgekeimt. Irgendwas stimmte mit diesem vermaledeiten Nest nicht und es ging weit über Langeweile und Eigentümlichkeit hinaus.
Die Zimmertür flog auf, Sug schwang herum, die Arme erhoben, die Fäuste geballt, bereit zuzuschlagen.
„Alles gut! Ich bin es nur!“, sagte Morgan.
„Kannst du nicht anklopfen?“, schimpfte
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