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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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davon.
    »Was ist geschehen? Warum ist er nicht durch das Kutschtor hineingefahren?« Lamotte setzte sich wortlos auf den Platz mir gegenüber und gab keine Antwort auf meine Frage.
    »Fragt nicht«, sagte er schließlich. Sein Gesicht war eisern.
    »Aber Ihr habt den Wärter bezahlt. Was ist fehlgeschlagen? Warum konntet Ihr sie nicht gleich mitnehmen?« Lamotte erteilte dem Kutscher Anweisungen. Er schloß die Augen und schwieg lange Zeit, bevor er wieder sprach.
    »Jemand hat Euren Bruder verständigt«, sagte er. Die Worte kamen heraus wie schwere Steine. »Zum Glück war ich gewitzt genug zu sagen, ich sei ein Cousin von seiten Eurer Mutter.«
    »Aber was?«
    »Euer Bruder sagte ihnen, sie seien einem Irrtum unterlegen. Er habe einst eine Schwester dieses Namens gehabt, aber sie sei vor Jahren gestorben.«
    »Damit hatte ich nicht gerechnet.« Wer war zu ihm gegangen? Die Polizei. Sie mußte es gewesen sein. Nur sie konnte so flink sein. Lamotte aber hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte. Ich packte seinen Arm und schüttelte ihn.
    »Ihr müßt mir sagen, was geschehen ist«, flüsterte ich ergrimmt.
    »Der Leichnam einer Verbrecherin –«, hörte ich ihn sagen. Ich schüttelte ihn wieder. »Fragt mich nicht. Verlangt nicht von mir, es Euch zu sagen«, murmelte er.
    »Aber ich muß es wissen – ich weiß nicht mehr ein noch aus, wenn ich es nicht erfahre«, rief ich. Er hob den Kopf und sah mich an; seine Augen waren gerötet.
    »Das anatomische Institut im Collège Saint-Côme. Sie fanden die Idee einer septischen Abtreibung – interessant. Mein Gott. Interessant. Und ich sehe sie noch aus dem Fenster schauen – ihre schönen blauen Augen. Lachend. Versteht Ihr nun? Nichts ist von ihr geblieben – kein Nerv, kein Organ. Nichts. Aufgeschnitten, zerlegt, für den Fortschritt der Wissenschaft der Anatomie. Ich habe den Stationsarzt an der Kehle gepackt. ›Sie hatte eine Seele! Das könnt Ihr nicht tun!‹ ›Ich bedaure, Monsieur, was geschehen ist, ist geschehen‹, sagte er und rückte von mir ab, als sei ich ein Wahnsinniger. Ich fürchte, ich habe mich zum Narren gemacht. Ich hatte – in meiner Phantasie hatte ich mir vorgestellt, sie einmal zum Abschied zu küssen – nur einmal. Das einzige Mal. Um meiner Jugend adieu zu sagen. War das zuviel verlangt? Nur ein einziges Mal… Aber die Männer mit den Messern, die Wissenschaftler, sie waren zuerst da.«
    So redete er noch ohne Zusammenhang daher, als das große Kutschtor des Palais de Bouillon geöffnet wurde. Er nahm sich zusammen, strich sich über das Gesicht und seinen sonst so flotten Schnurrbart. »Und heute abend diniere ich mit dem Schwein, Kopf im Trog, nicht besser als die übrigen.« Seine Stimme war ruhig, sein Blick bitter.
    »Ist Euch nicht wohl, Monsieur de la Motte?«
    »Nie und nimmer«, sagte er, als die Kutsche uns am Fuße der breiten Treppe absetzte, die vom cour d'honneur hinaufführte. Er sah zu den geschnitzten Balustraden und dem vergoldeten Portal darüber empor, als betrachte er die Pforte der Hölle. »Kommt einen Augenblick mit herein, Mademoiselle Pasquier. Sprecht mir von ihr. Mir – mir ist, als könne ich nicht atmen.« Er sah so erschüttert aus, ich konnte es ihm nicht abschlagen. Er führte mich durch die Korridore und offenen Staatsgemächer in seine bescheidene Wohnstatt auf der Rückseite des großen Hauses. Auf dem langen Wege wurde deutlich, wie viele Gefolgsleute, gehätschelte Schriftsteller und Künstler, Waisen, entfernte Verwandte das weitläufige Gebäude beherbergte. Eine Miniaturgesellschaft mit ihren eigenen Ständen, ihrem eigenen Hof, eine winzige Nachahmung des großen Hofes in Versailles. Ein Leben aus Schmeichelei, Falschheit und Aufstieg, und alle schätzten sich glücklich. Da hat man es doch als Hexenmeisterin der feinen Gesellschaft besser, dachte ich. Man kommt und geht durch den Vordereingang, wie es einem beliebt.
    Wir durchquerten Lamottes Empfangssalon, und er führte mich in einen niedrigen, goldgetäfelten Raum voller Bücher. Ein Schreibpult und zwei bequeme Lehnstühle hatten gerade Platz inmitten des Durcheinanders von Manuskripten und Theatersouvenirs. Sein Schlafrock, den er so hastig abgeworfen hatte, lag über einem schmalen, zerwühlten, mit Brokatvorhängen versehenen Bett.
    »Mein Versteck«, sagte er, das muffige kleine Gelaß mit einer Geste umfassend. »Selbst sie muß ihrem wilden Tier seine Höhle lassen.« Er kramte in einem Schränkchen und nahm eine

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