Die Hexe von Paris
und glitt zurück in das Meer der unheimlichen Träume.
Ein Problem in der Logik: Wie erlangt man Rache für den Diebstahl einer Sache, die nicht zurückgegeben werden kann? Man muß etwas von gleichem Wert nehmen, das ebenfalls nicht wiederbeschafft werden kann.
Am nächsten Tag wurde ich in La Voisins eigener Kutsche bei einer neuen Adresse abgeliefert, wo ich ungefähr eine Woche bleiben sollte, bis meine Gönnerin sicher wäre, daß Desgrez von der Fährte abgelassen hatte.
»Immerhin, meine Liebe«, sagte La Dodée, als sie meine Notizbücher mit einem reichlich bemessenen Krug des Schlafsirups zusammenschnürte, »bist du noch nicht wirklich eine von uns. Wir haben einen Blutschwur getan und uns gegen Folterungen gefeit, so daß wir einander nicht verraten werden. Aber du erträgst nicht einmal ein eng geschnürtes Korsett.« Wie recht sie hatte. Der dumpfe Schmerz breitete sich in meinem Körper aus, ob ich saß oder stand. Der hohe Schuh bildete Blasen an meinem verdrehten Fuß, und meine Beinmuskeln brannten, da sie an die neue Art der Balance nicht gewöhnt waren.
Die neue Bleibe war ein Zimmer unter dem Dachfirst eines großen alten Hauses im Faubourg St. Antoine. Dort sollte ich bei einer Frau namens La Lepère wohnen, deren Gewerbe mir unklar war; es hing mit den Vorgängen im Erdgeschoß zusammen. Den einäugigen Kutscher sah ich nie wieder. Später hörte ich, daß man ihn aus der Stadt geschickt und mit einer Konzession für Mietsänften in Rouen versehen hatte. Eine Näherin kam mit einem getragenen Kleid aus flaschengrüner Wolle mit vulgärem gelbem Satinbesatz, das besser für die italienische Komödie als für die Straße geeignet war. Ich haßte es über die Maßen. Sie änderte es für mich, und das verräterische graue Kleid verschwand. La Lepère, die alles beobachtete, sagte: »Meiner Seel, sie setzt auf dieses Wagnis, Madame Hochmut! Treibt ihr Spiel mit den feinen Herrschaften. Hochgestellte Kundschaft will sie; mehr, mehr, mehr! Und ich, ich arbeite so schwer und verdiene keinen Sou daran. Ich sprech' 'n Gebet für die alle, zahl' dem Totengräber 'n bißchen was, damit er sie anständig in einer Ecke vom Kirchhof begräbt. Aber sie – was sie anfaßt, verwandelt sich in Geld!« Sie blinzelte mich an, während die Näherin mir zu Füßen kniete und ankreidete, wie weit der Saum des häßlichen Kleides gekürzt werden mußte. »Wenigstens bezahlt sie mich anständig für deine Unterkunft, unbekannte Maid! Woher bist du, daß du so erhaben redest und so niedrig aussiehst?«
»Von außerhalb der Stadt«, sagte ich verärgert.
»Das sagen sie alle. Wüßte nicht, wieso du anders sein solltest, wenn ich's recht bedenke.«
In der klammen kleinen Stube eingeschlossen, wo mir sogar verboten war, aus dem Fenster auf die Straße zu spähen, wäre ich wohl vor Langeweile vergangen, hätte La Lepère nicht die Gewohnheit gehabt, skandalöse verbotene Flugschriften, Pamphlete und libelles zu lesen. Jeden Tag verschwand sie zu dem mysteriösen Gewerbe, das ihr kein Geld einbrachte, und ich ließ mich mit einem freudigen Seufzer auf ihrem Bett nieder, um ihre Sammlung zu verschlingen wie eine Schachtel Bonbons. Die Schriften, eine wahre Quelle der Perversion, waren ungeheuer fesselnd. Geschichten vom »italienischen Laster« bei Hofe, von Vergiftungen, von Affären, von heimlich geborenen und für immer fortgeschmuggelten Säuglingen, von Verrat und Intrigen. Alles gar schauerlich, vorzüglich dazu angetan, die Langeweile zu vertreiben.
Zuweilen überließ ich mich der wirksamen Arznei und schlummerte in einer Welt phantastischer, von den bizarren Berichten in den libelles bunt gefärbter Alpträume. Dann wieder trotzte ich den stets präsenten Schmerzen, um in meine Notizbücher zu schreiben. Mir war da ein interessanter Gedanke gekommen, daß es nämlich möglich sein könne, mittels eines geometrischen Schlusses die Existenz oder Nichtexistenz Gottes endgültig zu beweisen. Es war ein verzwicktes Problem, und wenn ich dachte, es gelöst zu haben, tauchte stets ein neuer Aspekt auf, der eine Neuberechnung des Ganzen notwendig machte. Das hielt mich tagelang beschäftigt, doch am Ende war ich der Lösung nicht näher gekommen.
Oft wurden meine Berechnungen von den Stimmen betrunkener Männer draußen vor der Türe gestört. Von Neugierde getrieben, ersann ich eine Methode, aus dem Spalt zwischen den geschlossenen Fensterläden zu sehen, indem ich in den kleinen Spiegelscherben blickte, der
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