Die Hexen - Roman
wir gehen könnten. Jetzt wäre der passende Augenblick dafür.«
Yvonne warf das Haar in den Nacken und zierte sich ein bisschen, aber nicht lange genug, um Ravennas Ritter zu verärgern. »Ich schlage vor, dass wir die Stadt verlassen. Zieh den Mantel aus, wickle das Schwert hinein und komm! In diesem Umhang kannst du dich jedenfalls nicht auf der Straße blickenlassen.«
Eine Stunde später bogen sie auf den Kiesweg ein, der zum Gasthaus ihrer Eltern führte. Lucian hatte die Fahrt über geschwiegen. Er saß neben Yvonne und hielt das Schwert zwischen den Knien umklammert. Er ließ sich nicht anmerken, ob ihm ihr Fahrstil oder die Geschwindigkeit gefielen, doch als Yvonne den Motor abstellte, atmete er erleichtert auf.
»Wir sind da.«
Lucian warf einen misstrauischen Blick auf das von Efeu umrankte Haus. Die Fenster des Gastraums waren dunkel, das Schild unbeleuchtet. »Wir sind wo?«, fragte er.
»In Ottrott. Das Haus gehört meinen Eltern«, erklärte Yvonne. »Ravenna und ich sind hier aufgewachsen.« Ohne auf den Ritter zu warten, stieg sie aus. Ihre Mutter kam ihr auf der Treppe entgegen. Sie umarmte Yvonne. Ihr Vater stand unter der Tür und musterte den Wagen.
»Wer ist das?«
Yvonne drehte sich um. Lucian war ausgestiegen. Klugerweise hielt er das Schwert hinter dem verbeulten Peugeot verborgen und starrte zu der Familie hinüber. Nicht einmal unter der Brücke am Kanal hatte er so verloren gewirkt wie in diesem Moment, als er ratlos auf dem Parkplatz stand, umgeben von Weinranken, einem dekorativen Fass und der weiß verputzten Mauer. Ein Zeitreisender, der Schiffbruch erlitten hatte und nun in ihrem Hof gestrandet war.
»Lucian ist ein guter Freund. Würdet ihr ihn und mich für ein paar Tage aufnehmen? Was mit Ravenna passiert ist, hat uns beide ziemlich mitgenommen.«
Ihre Eltern waren einverstanden, als sie hörten, dass Lucian und Ravenna einander kannten. »Junger Mann!«, rief Yvonnes Vater über den Parkplatz. »Kommen Sie herein! Die Freunde unserer Töchter sind uns willkommen.« Lucian runzelte die Stirn. Er zögerte einen Augenblick, doch dann fasste er sich ein Herz und schlenderte langsam herbei.
»Am besten überlässt du mir das Reden«, flüsterte Yvonne ihm zu, während sie in die Gaststube gingen. »Meine Eltern haben keine Ahnung, was wirklich hinter Ravennas Schwierigkeiten steckt und ich möchte, dass es so bleibt. Ich will nicht, dass noch mehr Mitglieder meiner Familie in diese Geschichte hineingezogen werden.«
Ihr war der Blick nicht entgangen, den ihr Vater auf das Schwert richtete, das Lucian samt dem aufgerollten Gurtzeug in der Hand trug. Allerdings war Gilbert Doré daran gewöhnt, dass ihm seine Tochter die seltsamsten Gäste ins Haus brachte. Einmal war sie in Begleitung eines tibetischen Mönchs gekommen, von dem sie alles über das Meditieren lernen wollte, ein andermal war es ein finnisches Medium gewesen, das ihr mit Hilfe eines Hexenbretts das Wesentliche über Totenbeschwörung beibrachte.
Lucian nahm an der langen Seite des Tisches Platz und musterte die Theke, auf der hausgemachte Schnäpse und Liköre standen, die Durchreiche zur Küche, hinter der die Mutter mit klapperndem Geschirr hantierte, und die historischen Kupfertöpfe an der Wand. »Warum steht die Gaststube leer?«, fragte er.
»In einer solchen Situation will man keine Gäste bedienen«, brummte Yvonnes Vater. »Das verstehen Sie doch sicher.«
»Aber es ist nicht gut«, beharrte der junge Ritter. »Das Leben muss weitergehen.«
Unter dem Tisch griff Yvonne nach seinem Handgelenk und drückte fest zu. Lucian verstummte.
»Wenn ich nur wüsste, was in Gress gefahren ist«, brummte der Vater. »Oder in Ravenna. Wie kommt sie nur dazu, die Praxis ihres Therapeuten zu verwüsten?« Er musterte Yvonne mit strengem Blick. »Wusstest du eigentlich, dass deine Schwester in Behandlung war?«
Yvonne schüttelte den Kopf und schwieg. Einige Herzschläge lang wartete sie auf das Verhör, das nun wohl folgen musste, doch dann klingelte das Telefon an der Rezeption. Seufzend schob der Vater den Stuhl zurück und ging in den Flur. Durch die Tür hörte sie, wie er den Hörer abnahm und die Anfragen der Gäste abwies.
»Das war schon wieder eine Lüge«, stellte Lucian fest. »Ihr wusstet ganz genau, wie es um Ravenna steht. Glaubt Ihr, mit Unehrlichkeit schafft man die Sache aus der Welt?«
Yvonne spürte, wie sie allmählich wütend wurde. Vielleicht hätte sie Ravennas Ritter einfach seinem
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