Die Hexen - Roman
zogen den Kopf an unsichtbaren Fäden durch den Raum. Als der Spuk in Yvonnes Nähe kam, schrie sie auf: Das Gesicht der Toten war von Ratten verwüstet, die Lider abgefressen, die Kiefergelenke ausgelöst, so dass man sah, wie die Zunge aus dem Rachen hing …
»Es reicht!«
Mit einem Knall landete Mavelles Hand auf der Tischplatte, das Geräusch ließ alle Anwesenden zusammenfahren, die boshafte Schankmaid eingeschlossen. Rings um die Elfe funkelte die Luft wie ein Eissturm. Die Wirtstochter stieß ein Fauchen aus. Die Finger zu Krallen gebogen, ging sie auf Mavelle los, doch die Elfe wehrte den Angriff ab.
»Caumyanier!«, rief sie und die Schankmaid sackte auf dem Fußboden zusammen. Ihr Gesicht lief blau an, die Lider flatterten.
Der Wirt stürzte hinter dem Tresen hervor. »Bitte … tut meiner Tochter nichts! Es ist nicht ihre Schuld, sie kann nichts dafür! Sie erschafft diesen Spuk erst, seit ihre Mutter ums Leben kam.«
»Ihre Mutter starb?« Nachdenklich blickte Mavelle zu dem abgetrennten Frauenkopf empor, der sich wie ein Kreisel drehte. Bis an ihr Lebensende sollte Yvonne dieser Anblick verfolgen. »Der Mord geschah in dem verriegelten Anbau, nehme ich an«, mutmaßte die Elfe. »Und der Wirt warf sich dazwischen, um seine Frau zu retten. Seitdem geht es mit der Herberge bergab. Es würde mich nicht wundern, wenn der Marquis vom Hœnkungsberg dahintersteckt. Sagt, Herr Wirt, war Eure Frau eine Hexe?«
Der Mann wurde kreidebleich. »Bitte«, stammelte er. Viel fehlte nicht und er wäre vor der Elfe auf die Knie gesunken. »Meine Frau wusste, wie man Kräutertränke braut, sie verstand es, den Schafen beim Lammen zu helfen und kannte einen Spruch bei wechselndem Mond. All das macht doch gewiss noch keine Hexe aus.«
Mavelle hob eine Augenbraue. »Sie hat Eurer Tochter die Gabe vererbt. Da sie gewaltsam aus Eurer Mitte gerissen wurde, kommt sie nicht zur Ruhe und ihr Geist zerrt an Eurem Kind. Das Mädchen muss loslassen, oder sie verliert ebenfalls das Leben. Um ihr zu helfen, muss ich leider ihr drittes Auge verschließen.«
Ratlos starrte der Wirt auf seine Tochter. Mavelle wies auf die Stirn des Mädchens, wo sich das Flammenmal zeigte. Der Rand glomm schwefelfarben und ein ungesundes Licht pochte unter der Haut.
»Ravenna.«
Die Angesprochene schrak auf. Bis eben noch hatte sie die Stirn in die Hände gestützt, um den abgehackten Kopf nicht sehen zu müssen, der unter der Decke pendelte. Niemand hatte seinen Platz verlassen, alle warteten, was als N ächstes geschah.
»Ich bin hier. Was jetzt? Was soll ich jetzt tun?«
»Mir beim Hexen zur Hand gehen«, murmelte die Elfe. »Bring das Siegel von Samhain in den Kreis und knie dich vor das Mädchen. Mir fällt das Bücken schwer, deshalb musst du es für mich tun.«
Zögernd erhob sich Ravenna von der Bank. In diesem Augenblick beneidete Yvonne sie nicht – ihre Schwester musste sich dicht vor die Tochter des Wirts kauern und den Ring auf das Mal pressen, während der gespenstische Schädel über ihr wie an einem Gummiseil baumelte. Aus der Mundhöhle drang das Zischen von tausend Schlangen und in den Augen schwamm Bleiglanz.
Als Mavelle die Arme hob, wurden alle Lichter im Raum matter. Der Hund verkroch sich unter dem Tisch der Ritter. Sorgsam schritt die Elfe einen Kreis ab, eine Schleppe aus Eiswirbeln hinter sich herziehend. »Ein Auge verschließen, das sich gerade geöffnet hat, eine Gabe veröden, die wie ein Brunnen sprudelt«, hörte Yvonne ihre halblauten Worte. »Eine Schande ist das, doch ich kann es nicht ändern. Hier wurde schon zu viel Schaden angerichtet.« Mavelle blieb stehen. »Halte das Siegel an seinem Platz, egal was um dich herum geschieht«, befahl sie Ravenna.
Sie berührte die eigene Stirn. Eine Lichterkrone erschien auf ihrem Kopf, ein Gebinde aus Zweigen, Blättern und Beeren, die von Raureif überzogen waren und in einem sphärischen Glasglanz erstrahlten. Zur gleichen Zeit wurde das Siegel lebendig. Yvonne stockte der Atem. Die Königin von Samhain, die Magierin, deren Zauber die Dunkelheit durchdrang: Nun wusste sie, wen sie vor sich hatte.
»Gekommen, um wieder zu gehen«, sprach die Elfe zu der Geistererscheinung. »Gegeben, um genommen zu werden. Gebunden, um befreit zu sein. Geliebt, um nie vergessen zu werden. Nichts ist verloren, alles ist im Strom der Magie bewahrt. Deshalb kannst du beruhigt sein und deinen Frieden mit der Welt machen. Nun geh und lass deiner Tochter ihr Leben, solange es auch
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