Die Hexen - Roman
währen mag! Geh!«
Ein Seufzen entrang sich den zerbissenen Lippen. Die Augen des Geists sanken noch tiefer in die Höhlen. Die Erscheinung verblasste, der schwebende Kopf schmolz, bis er die Größe einer Kerzenflamme hatte. Mit glitzerndem Eishauch schrieb Mavelle eine Zauberformel in die Luft. Das Geisterlicht erlosch. Die schlammroten Blutspritzer an den Wänden verblassten und Yvonne war nicht die Einzige, die einen Stoßseufzer hervorstieß.
Nur Ravenna und die Tochter des Wirts blieben in dem magischen Kreis zurück. Die welligen Schriftzeichen auf dem Siegel glühten. Das Flammenmal auf der Stirn des Mädchens welkte wie ein Blatt, das der Glut zu nahe kam, seine Ränder kräuselten sich, bis es sich wie Schorf von einer verheilten Wunde abstreifen ließ. Zurück blieb makellose Haut.
Mavelle nickte zufrieden. Als sie ihr Silberhaar zu einem Zopf zusammendrehte und im Nacken zu einem Knoten schlang, verschwand die magische Krone, die Lampen brannten wieder mit gewohnter Helligkeit. Die Elfe kniete neben der Schankmaid nieder, um sie zu untersuchen.
»Ihre Gabe ruht«, stellte sie fest. »Mag sein, dass sie sich noch einmal regt. Dann solltet Ihr nicht zögern und Eure Tochter zu uns auf den Hexenberg bringen. Nun aber schafft sie hinauf in ihre Kammer, damit sie sich ausruht. Wir kommen auch ohne Euch zurecht, wenn Ihr erlaubt.«
Der Wirt konnte Ravenna und der Elfe nicht genug danken. Er schüttelte beiden Frauen die Hände und versprach, dass sie in seinem Haus stets willkommene Gäste seien. Mavelle nickte. In ihrer Reisekleidung sah sie nicht länger beeindruckend aus, doch Yvonne wusste, dass der Anschein trog. Magie war immer auch eine Frage der Betrachtung.
»Glaubst du mir jetzt, dass in der Wirtstochter ein verborgenes Talent rumorte?«, bemerkte Norani. Sie wirkte selbstzufrieden wie eine Katze, die sich über eine Schale Milch hergemacht hatte. »Ahnensang und Anomalien im Feld des Stroms. Nicht gerade eine alltägliche Gabe.«
Yvonne runzelte die Stirn. »Du solltest sie trotzdem nicht mit mir verwechseln. Ich unterdrücke meine magische Kraft nicht. Im Gegenteil: Ich lebe sie aus.«
Sie hatte nicht mit der Kraft gerechnet, mit der sich Noranis Finger in ihr Handgelenk bohrten. Die dunkelhaarige Hexe war einen ganzen Kopf kleiner als sie, doch ihre Augen funkelten.
»Gib dich nicht so unbeschwert«, zischte sie Yvonne ins Ohr. »Ich durchschaue dich! Ich weiß, dass du uns nicht alles sagst, und werde dich nicht aus den Augen lassen, bis ich herausgefunden habe, was du verschweigst. Du hast gesehen, was wilde Magie anrichtet! Ist dir klar, dass das Mädchen kurz vor dem Zusammenbruch stand? Willst du eines Tages so enden, Yvonne? Sag mir – willst du das?«
»Lass mich in Ruhe!« Mit einem Ruck riss Yvonne ihre Hand aus dem Griff der Wüstenhexe. »Du hast keine Ahnung, wer ich bin oder worin meine Gabe besteht! Ihr wollt mich nicht in Eure Kreise aufnehmen – na schön! Dann bin ich dir auch keine Antwort schuldig.«
Verärgert stapfte sie zu einer Bank am Fenster und ließ sich auf die Sitzfläche fallen. Die anderen Mädchen hatten die feuchten Umhänge zum Trocknen über die Stuhllehnen gehängt und musterten ihre Umgebung verstohlen. Ohne den Spuk eines kopflosen Geistes sah der Raum wie eine ganz gewöhnliche Gaststube aus. Einige der jungen Hexen verteilten Eintopf und würzig riechenden Käse, Weißwein und dunkles Brot. Yvonne wischte den Becher an ihrem Umhang sauber, ehe sie sich einschenkte. Sie seufzte. Die Sieben entsprachen nicht ihren Erwartungen, sie waren zu sehr mit der Einhaltung von Vorschriften befasst. Regeln! Yvonne schnaubte verächtlich und lehnte sich zurück. War es denn nicht das Wesen der Magie, ohne Regeln auszukommen?
Schweigsam löffelte sie ihren Eintopf und achtete darauf, die klebrige Tischplatte nicht einmal mit den Ellenbogen zu berühren. »Das arme Mädchen«, sagte sie schließlich und schob den leeren Napf von sich weg. »Da besitzt diese Wirtstochter eine ganz außerordentliche Gabe, doch kaum trifft sie auf euch, nimmt man ihr diese Fähigkeiten wieder weg.«
Es war ein Test. Sie wollte sehen, wie ihre Tischnachbarinnen reagierten und wer auf wessen Seite stand. »Was mit der Schankmaid geschah, ist doch wohl nicht erstrebenswert«, brummte eines der Mädchen prompt. »Vom Geist der toten Mutter heimgesucht zu werden – das wünscht sich wirklich niemand.«
Yvonne verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Fensterbank. »In dem
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