Die Hexen - Roman
wie ihre Schwester auf Oriana aus dem Steineladen hereingefallen war. Und sie wusste auch, unter welchem Vorwand Beliar ihre Schwester auf das Boot gelockt hatte.
Sie ließ den Kopf auf die offenen Seiten sinken. Das darf alles nicht wahr sein, dachte sie. Yvonne stand im Begriff, sich in eine schwarze Hexe zu verwandeln und auf die düstere Seite der Macht zu wechseln. Ihre Schwester war drauf und dran, das zu werden, was die Marquise verkörperte. Und Elinor war vor allem eins: unglücklich.
Ravenna biss sich auf die Lippe. Sie fühlte sich schuldig. Yvonne hatte sich wegen ihr auf die Suche begeben. Anfangs war es ihr wirklich nur darum gegangen, ihrer verschwundenen Schwester zu helfen. Doch dann hatten sich die Dinge in eine völlig andere Richtung entwickelt. Yvonne war in Beliars Sog geraten. Da er Ravenna nicht länger beeinflussen konnte, konzentrierte er sich nun auf die jüngere der beiden Schwestern.
Mit einem Ruck hob Ravenna den Kopf. Sie musste etwas unternehmen! Sie durfte nicht zulassen, dass Yvonne dem Marquis und seinen Verführungskünsten verfiel.
Sie schwang sich vom Himmelbett und spritzte sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Während sie sich das Gesicht mit einem Leintuch trockenrieb, musste sie an die Tarotkarte denken, die Yvonne zusammen mit Lucians Haarlocke in das Medaillon gesteckt hatte. Die Liebenden. Die Gefährten von Mittsommer.
Es gab noch eine andere Karte, die dasselbe nackte Menschenpaar zeigte, doch auf diesem Bild wurden sie nicht von einem mit Laub gekrönten Engel behütet, sondern waren mit Ketten an den Thron eines Dämons geschmiedet: einer gehörnten Gestalt mit Fledermausflügeln und einem umgedrehten Pentagramm auf der Stirn. Alles lag so dicht beieinander. Alles hatte eine Kehrseite, sogar die Liebe. Manchmal war sie das größte Glück, das einem Menschen widerfahren konnte. Und dann wiederum die Hölle auf Erden.
Ravenna warf das Tuch neben die Waschschüssel. Vom fehlenden Schlaf war ihr schwindlig, doch sie wollte keine Zeit mehr verlieren. Schwungvoll warf sie sich den Umhang um die Schultern, schnallte sich das Schwert um die Hüften und zog die Stiefelschäfte hoch. Dann ging sie zu der Zwischentür und öffnete sie lautlos. Yvonnes Tagebuch ließ sie auf dem Bett liegen.
Das angrenzende Zimmer glich ihrer Kammer, bis auf eine Wiege aus Holz, die neben dem Bett stand. Auf Zehenspitzen schlich sie durch das Gemach. Die Wiege war leer. In den Falten des Überwurfs auf dem Bett sammelte sich Staub und unter dem Seidenhimmel hingen Spinnweben, so dick und grau wie Zeltplanen.
Ravenna begriff: Dies war das Zimmer der toten Marquise, jener jungen Frau, die vor Elinor auf dem Hœnkungsberg geherrscht hatte. Eilig durchquerte sie den Raum und wünschte sich, keine Spuren zu hinterlassen. Sie fasste die Klinke der nächsten Tür.
Wieder ein Zimmer. Wieder gab es keine Spur von den Bewohnern, abgesehen von einem verlassenen Tisch und einem kalten Kachelofen. Als sie auch diesen Raum verlassen hatte, stand sie in einem langen Flur. Die Tür zum Wappensaal war nur angelehnt, sie hörte die Schritte der Dienerschaft und das Klappern von Tellern. Es roch nach Braten, nach Kümmel, Speck und Rosmarin und nach frischem Brot. Gleichzeitig schwebte noch ein anderer Duft im Gang, der irgendwie … feierlicher roch. Lavendelöl. Sie verzog den Mund.
Dann hörte sie plötzlich Schritte auf der Wendeltreppe und ihr Puls jagte in die Höhe. Sollte sie auf die Galerie ausweichen? Nein – der Gang war offen und jeder, der durch den Innenhof ging, konnte sie sehen. Hastig wich sie in die Zimmerflucht zurück, die sie eben durchschritten hatte, und zog die Tür leise zu, ohne jedoch das Schloss einrasten zu lassen.
Velasco hatte es eilig. Der Mantel wehte hinter ihm her, der Schwertgurt klirrte bei jedem Schritt. Der Hexer war gekleidet wie ein Edelmann – ein kriegerischer Edelmann, der außer Samt eine mit Metallplatten verstärkte Lederrüstung trug. Ravenna beobachtete ihn durch den winzigen Spalt zwischen Tür und Pfosten. Wieder fröstelte sie, als ihr die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn auffiel. Hoffentlich würde Lucian später nie einen derart grimmigen Ausdruck zur Schau tragen.
Sie wollte schon aufatmen, als der Hexer von Carcassonne noch einmal zurückkam. Suchend blickte Velasco sich um, seine Nasenflügel bebten. Ravenna rutschte das Herz in die Magengrube. Witterte er sie etwa?
Eine Zofe wollte mit gesenktem Kopf an dem Hexer vorbeihuschen,
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