Die Hexen - Roman
von einem Punkt aus, der in der Nähe dieses Sternbildes liegt.« Elinors Finger lag an einer Stelle, an der sieben Punkte eingezeichnet waren. Ravenna erkannte die Markierung wieder: Zusammen ergaben die Punkte den Großen Wagen. »Zweimal im Jahr, zu den Sonnenwenden, muss der Kraftstrom eingefangen und zur Erde gelenkt werden, damit er nicht versiegt«, fuhr die Marquise fort.
»Mit den Siegeln«, bemerkte Ravenna.
Elinor nickte. »Mit den Siegeln. Nur zu diesem Zweck wurden die Ringe erschaffen. Und nur aus diesem Grund gibt es den Zirkel der Sieben. Die Tänze der Hexen verfolgen nur einen einzigen Zweck: Sie erhalten den Fluss der Magie und damit die Quelle der Zauberkraft. Wenn der Strom versiegt, versiegt auch unsere Macht und wir würden zu gewöhnlichen Menschen ohne jede Gabe.«
Fasziniert studierte Ravenna die Karte. Endlich wusste sie, weshalb die Sieben auf den Gipfel des Hohen Belchen ritten. Dort lag ein Kraftplatz, ein geheimer Kultort, der mit anderen Plätzen dieser Art in Verbindung stand. Drei Berge mit gleichem Namen. Sie bildeten eine Art kosmisches Geodreieck, einen Hexenkalender, der das ganze Flusstal überspannte. Jetzt begriff sie: Magie, wahre Magie, war wesentlich mehr als jene kleinen Zaubereien, denen sie im Alltag begegnet war. Sie war eine alles umfassende Macht, die den Himmel, die Sterne und die Geister einschloss.
»Das ist unglaublich«, stieß sie hervor.
»Das ist Mathematik«, verbesserte Elinor trocken. »Die vielleicht älteste Hexenkunst.«
Ravenna hob den Kopf. »Und Beliar will das alles an sich reißen? Um seine Herrschaft auf die ganze Welt auszudehnen? Mit Blutopfern, Untoten und all dem schrecklichen Unglück?«
Elinor ließ den Kopf gegen die Stuhllehne sinken. In glitzerndem Schwarz und dem eng geschnürten Mieder sah sie aus wie eine Wespenkönigin. Sie musterte Ravenna eingehend.
»Der Marquis hat die Falle für die Hexen von langer Hand vorbereitet. Wenn die Sieben erst auf dem Tanzplatz sind, gibt es kein Entkommen. Begreifst du: die richtige Nacht, der richtige Sonnenstand, der richtige Ort und alle sieben Siegel zusammen.« Sie lächelte düster. »Beliar weiß genau, was er tut. Er muss nur in den magischen Kreis treten und alles, was er wollte, gehört ihm.«
Lag es an der Übermüdung, dass es Ravenna plötzlich so schummerig wurde, oder war es der Schock? Beliar wollte die magischen Siegel stehlen – nicht nur eines, sondern alle! So lautete der Plan des Marquis und er hatte bereits alles Nötige in die Wege geleitet. Plötzlich erkannte Ravenna, dass die Hexen kaum eine Chance hatten. Immer, wenn sie dachten, dem Teufel ein Schnippchen zu schlagen, war er ihnen meilenweit voraus.
»Warum sagst du nicht einfach, was du von mir willst?«, fragte sie. »Ich nehme an, dass du mir nicht um der Sieben willen hilfst. Oder weil du Lucian bedauerst.«
Elinor beugte sich vor. »Ich möchte, dass du mir hilfst, meine Burg zurückzuerobern.«
Ravenna verschluckte sich. Hustend stand sie auf, ließ den Hexenmantel über die Schultern zu Boden gleiten und ging zu dem Schränkchen, auf dem eine Karaffe stand und daneben Brot und kalter Braten. Von beidem säbelte sie eine dicke Scheibe ab und schenkte sich einen Becher voll. Das Wasser war klar und roch unverdächtig. Wenn sie nichts aß und trank, würde sie bald so geschwächt sein, dass sie den Teufel nicht vom Beelzebub unterscheiden konnte. Kauend kehrte sie zum Kamin zurück.
»Ich soll die Festung auf dem Hœnkungsberg für dich erobern? Und wie stellst du dir das vor?«, fragte sie mit vollem Mund. »Dass ich das Schwert nicht richtig führen kann, dürftest du schon gemerkt haben. Außerdem habe ich das Siegel des Sommers nicht länger bei mir und ich bin Morrigan nie begegnet. Was willst du also mit mir anfangen?«
In Elinors Gesicht regte sich kein Muskel. Sie wirkte wie eine Marmorstatue, um die man Perlen und kostbare Stoffe drapiert hatte. »Wenn Lucian sich dem Willen seines Vaters nicht beugt – und ich glaube kaum, dass das geschieht –, muss er sterben. Heute ist der längste Tag des Jahres. War dir das klar? Mittsommer ist heute. Bei Sonnenuntergang treffen die Sieben auf dem Tanzplatz ein. Lucians Blut wird Beliar das Tor öffnen, durch das er auf den Hohen Belchen gelangt – zeitgleich mit den Hexen.«
Ravenna packte die Angst. Sie warf einen Blick zu dem schmalen, vergitterten Fenster. Der Himmel über der Festung war milchig, die Banner regten sich im Morgenwind. Überall war
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