Die Hexen - Roman
Wahrscheinlich war die Uhr beim Sturz gegen einen Stein geprallt und kaputtgegangen. Ravenna warf einen Blick in den Himmel. So weit und still war ihr die Nacht noch nie erschienen. Die Sterne funkelten über den Wipfeln und die Berge lagen in tiefem Schweigen. Zwischen den Bäumen tat sich eine Lücke auf und erlaubte ihr einen Blick in das Tal.
Ruckartig blieb sie stehen. Die Rheinebene war vollkommen dunkel. Weder Autoscheinwerfer noch Straßenbeleuchtung blinkten, obwohl doch neben dem Fluss zahlreiche Hauptverkehrsadern verliefen. Keine der Ortschaften war erleuchtet und es war vollkommen still.
Es war, als hätte es die Welt, die sie kannte, nie gegeben.
Die Sieben
Odilienberg im Jahr 1253
Im Dunklen durchquerten die Frauen die Pforte des Klosters. Nirgendwo brannte Licht, der große, ummauerte Innenhof war von vollkommener Ruhe erfüllt. Ravenna hatte die Anlage mit den herrschaftlichen Gebäuden und den Aussichtsterrassen oft besucht, doch an die beiden Reihen schlanker, junger Bäume, die vor dem Wohntrakt wuchsen, erinnerte sie sich nicht. Als sie unter den Torbogen der Eingangshalle trat, zögerte sie und blickte noch einmal zurück. War es möglich, dass es dieselben Linden waren, die im einundzwanzigsten Jahrhundert zu uralten, knorrigen Zeitzeugen geworden waren? Lindenbäume konnten ein ganzes Jahrtausend überdauern. Es war denkbar, dass sie jetzt gerade die Anpflanzung in einem viel früheren Stadium sah. Panik stieg in ihr auf. Was geschieht mit mir?, fragte sie sich. Dies war keine Wahnvorstellung und auch kein Tagtraum, sie war wirklich auf dem Odilienberg. Aber weshalb hatte sich ihre Umgebung derart verändert? Hatte sie wirklich einen Zeitsprung erlebt, wie Yvonne vermutete? Das ist verrückt, dachte sie. Vollkommen irrwitzig. Das kann einfach nicht sein.
Eine der verhüllten Frauen legte ihr die Hand zwischen die Schulterblätter und schob sie sanft durch die Tür. »Nun geh schon«, raunte die Stimme dicht an ihrem Ohr.
Ravenna betrat den langen, dunklen Gang. Unsicher folgte sie den Frauen, bis sie einen Saal mit blauem Gewölbe erreichten. Goldene Sterne funkelten an der Decke und in der Mitte stand eine runde Tafel. Sieben Stühle mit hoher Lehne umgaben den Tisch. Der achte Stuhl glich einem Thron aus blauem Samt, seine Stuhlbeine ruhten auf Bärentatzen. Ein Bogen aus Sternen überragte die Lehne.
Achtlos warfen die Frauen die Umhänge über Stuhllehnen oder Sitzbänke, ehe sie sich schwatzend am Feuer versammelten. Nur der blaue Thron blieb unberührt. Verstohlen musterte Ravenna ihre Begleiterinnen. Im Licht und ohne die grauen Mäntel wirkten sie wie ganz gewöhnliche Frauen, die sich für einen Abend in historische Kostüme gekleidet hatten. Bei der Herstellung der bodenlangen Gewänder hatte man sich große Mühe gegeben. Die Stoffe waren aus handgesponnener Wolle oder Leinen gewoben und mit Pflanzenfasern gefärbt. Am Kragen, am Saum und an den Ärmeln waren die Kleider mit Seidenbändern oder Borten versehen und mit verschlungenen Zeichen bestickt. An den Füßen trugen die Frauen flache Lederschuhe, die über dem Knöchel mit Schnüren oder Knöpfen geschlossen wurden. Die Gewänder sehen echt aus, dachte Ravenna und ihr Magen verkrampfte sich. Frühes Mittelalter, schätzte sie, so ähnlich wie die Statuen über dem Portal des Münsters.
»Was für eine ungemütliche Nacht«, beschwerte sich die dunkelhaarige Schöne und legte einen Scheit aufs Feuer. Ihre grünen Ohrringe blitzten.
»Eher eine ungemütliche Nachbarschaft«, brummte die groß gewachsene, sehnige Jägerin. Unter dem Umhang hatte sie Köcher und Bogen getragen. Geräuschvoll ließ sie nun die Ausrüstung auf die Bank neben der Feuerstelle fallen. Dann nahm sie an der Tafel Platz, streckte knackend die Gelenke und gähnte.
»Und ein ungemütlicher Ort für eine Beschwörung«, warf die Elfe ein. Das junge Gesicht und die silbernen Haare standen in einem merkwürdigen Gegensatz zueinander. Sie war sehr zierlich und unter dem Gewand sah man deutlich, dass sie schwanger war.
Verlegen stand Ravenna neben der Tür. Plötzlich war sie es, die sich fehl am Platz vorkam: in Pullover und Jeans, mit Schlamm bespritzten Stiefeln unter all diesen aufwändig und raffiniert gekleideten Frauen. Sie räusperte sich und spürte, wie sie rot wurde.
»Ich muss dringend meine Eltern anrufen«, sagte sie. »Sie wissen nicht, wo ich bin, und machen sich bestimmt große Sorgen. Gibt es hier irgendwo ein Telefon?« Aus der
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