Die Hexengabe: Roman (German Edition)
wurde mit der nächsten heranbrandenden Welle fortgespült.
Ich muss mich an einen Mast anbinden, dachte Rosa, lange kann ich mich nicht mehr festhalten.
Das Schiff wurde plötzlich wie von Geisterhand emporgetrieben, krachte dann tief in ein Wellental, wo gewaltige Brecher das Schiff unter sich begruben, doch es richtete sich wie zum Trotz wieder auf.
Rosa schnappte nach Luft, bekam eine Ladung Salzwasser in den Mund, röchelte, wurde durch das Absacken in die Tiefe von der Reling weg hin zu ihrem Verschlag geschleudert, wo sie sich an ihrer Hängematte festhalten konnte. Allerdings nur wenige Augenblicke, dann löste diese sich durch die hereinbrechenden Fluten aus der Verankerung, und Rosa wurde wieder zum Spielball der Wellen. Ihre Arme wurden schwächer, ihre Hände waren klamm, sie konnte sich nicht länger festhalten, wurde über das Deck getrieben wie ein leeres Fass.
Ein Blitz erhellte das Deck, und Rosa bemerkte, dass seitlich von ihr dicke Taue lagen. Dorthin musste sie, sich mit denen festbinden. Sie kroch hinüber, griff nach einem Ende. In diesem Augenblick erfasste eine so große Woge ihren Körper, dass sie dachte, sie müsste ertrinken. Sie arbeitete sich durch das Wasser. Luft, sie brauchte Luft. Sie strampelte, und da, ihr Kopf war frei, sie konnte atmen.
Einen Moment hielt sie inne. Was war das? Hatte sie Wasser in den Ohren?
Alles war plötzlich so still.
Das Wasser versickerte zu ihren Füßen. Das Schiff ächzte und stöhnte immer noch, aber das war wie Musik in Rosas Ohren, denn sie konnte es nur hören, weil das schreckliche Heulen des Windes aufgehört hatte.
Sie hatte ihren ersten Sturm überlebt und lächelte erleichtert. Ein gutes Omen! Ja, sie würde es nach Indien schaffen, ganz sicher!
Sie spürte mehr, als dass sie es sah, dass jemand vor ihr stand.
»Was sitzt du hier herum, anstatt dem Schiffsarzt zur Hand zu gehen, Nichtsnutz!« Der Profos hatte also den Sturm auch überlebt. Schade, dachte Rosa, wirklich schade.
Während sie zur Kajüte des Arztes schlitterte, hörte sie, wie der Profos die Leute herumkommandierte. Wahrscheinlich war es wirklich seine Aufgabe, aber die Art, wie er ihr nachging, war abstoßend.
Vor der Kajüte des Arztes wurde ihr klar, dass sie vollkommen durchnässt war. Würde man da nicht den Schal sehen, den sie sich um ihre Brust gebunden hatte? Hatte der Profos etwas bemerkt?
Da öffnete der Arzt die Tür. »Carlo, du lebst.« Wolfhardt umarmte Rosa. »Das ist eine gute Nachricht.«
Einen Moment lang kam es ihr so vor, als wäre ihr Vater wieder zurück und würde sie trösten.
Doch der Mann war nicht ihr Vater, sie spürte, wie die Muskeln des Arztes flatterten, vielleicht war auch er noch angespannt von dem Sturm. Ganz unerwartet stieß er sie plötzlich von sich, drehte sich weg von ihr, bückte sich und kramte in seiner großen Kiste.
»Willst du nicht das klatschnasse Zeug ausziehen und dich in diese Decke wickeln? Meine chinesische Truhe ist mit Lack versiegelt und daher nahezu wasserdicht.«
Dankbar nahm Rosa die Decke und hängte sie sich um. Sie konnte sich nicht ausziehen, das war unmöglich.
»Komm, setz dich her. Das war dein erster Sturm, oder? Trink das!«
Er reichte Rosa einen kleinen funkelnden Becher.
»Aber der Profos …« Rosa griff mit triefend nassen Handschuhen nach dem Becher und hoffte, er würde nicht darauf bestehen, dass sie die nassen Lappen auszog.
»Trink.«
Wolfhart nickte, als Rosa endlich an dem Becher nippte. Es war Rum, der sie von innen wärmte. Nur dieses ein Mal, denn sie hatte sich fest vorgenommen, keinen Rum zu trinken, weil sie Angst hatte, im Rausch ihre Verkleidung preiszugeben.
»Den Toten können wir jetzt nicht mehr helfen, und die Verletzten wissen, wo sie hinmüssen. Auf keinen Fall sollten wir auf den Decks herumlaufen und die Aufräumarbeiten behindern. Wir müssen hier bleiben und warten.«
Rosa setzte sich so weit entfernt von der Laterne wie möglich, trotzdem starrte der Arzt sie an.
»Du hast an der Stirn eine Schramme, lass mal sehen.«
Er kam näher, betrachtete die Wunde. »Nur ein Kratzer.« Er strich mit seiner Hand über ihre Wange, dann noch einmal sehr sanft.
»Merkwürdig, du hast die Haut eines Mädchens«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Rosa.
Rosa wurde jetzt erst klar, dass sie ihre Mütze nicht mehr trug und das Wasser den Dreck abgespült hatte, den sie sich sonst ins Gesicht schmierte.
Es wurde an der Tür geklopft.
»Da sind schon die Ersten – das
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