Die Hexengabe: Roman (German Edition)
frischem, süßem Wasser. Sie musste sich sehr beherrschen, um nicht eine Handvoll Salzwasser zu trinken, aber das wäre das Ende. Aber war es das nicht sowieso? Wie sollten sie je an Land gelangen, ohne Karte und ohne Kompass? Wie sollten sie noch mehr Tage ohne Nahrung und Wasser auf dem Meer überstehen?
Über ihnen flog etwas. Ein Vogel.
Sie beugte sich vor und griff nach den Rudern. Dabei fiel ihr Blick auf die Kette mit dem Kreuz in seinem Ausschnitt, und wie schon beim ersten Mal löste der Anblick ein merkwürdiges Gefühl in ihr aus.
»Warum hast du mich gerettet?«, fragte sie und starrte weiter auf das Kreuz in der Hoffnung, dass ihr klar werden würde, was es zu bedeuten hatte.
»Ich wollte nicht verhungern und dachte, ich nehme mir einen kleinen Vorrat mit.« Der Missionar lächelte.
»Dann bist du also weder Jesuit noch Missionar, sondern schlicht und einfach Kannibale.«
Er nickte.
Das Schreien einer Möwe erinnerte sie wieder daran, wo sie jetzt waren. Allein mitten auf dem Meer.
»Ein gutes Zeichen!«, sagte der Missionar und deutete auf den Vogel.
»Warum?«
»Es bedeutet, dass Land in der Nähe ist.«
Rosa sah sich ungläubig um, überall nur das in der Sonne trügerisch funkelnde Meer, das sich in kleinen Wellen am Boot brach und beständig kalte, salzige Tropfen hineinsprühte.
»Wo soll da Land sein?«
»Es ist nah, riechst du das?«
»Was?«
Der Missionar griff hinter sich und wedelte mit einem rotbraunen, schlabberigen Busch mit merkwürdigen Blättern. Er verströmte einen intensiven Geruch nach Fisch.
»Es riecht nicht, es stinkt.«
»Da hast du recht.« Er grinste. »Dieser Seetang ist typisch für die Kapregion. Das bedeutet, die Gewässer werden niedriger. Außerdem kann man ihn essen, wir werden also nicht zu Kannibalen werden müssen.«
Rosa betrachtete das Gewächs und schüttelte sich.
Der Missionar legte den Busch wieder hin und nickte mit dem Kopf zu den Rudern. »Also los, fang an zu rudern!«
»Woher wissen wir, wo wir hinrudern müssen?«
»Ich habe keine Ahnung, denn ich war noch nie schiffbrüchig vor der Küste Afrikas. Aber ich glaube, wir müssen nach Osten. Jetzt ist Mittag, also ist dort Süden.« Er zeigte auf die Sonne. »Dann rudern wir dorthin«, wieder wies er mit dem Finger in eine Richtung, was Rosa seltsam lächerlich vorkam, denn auch dort war nichts als Meer.
»Von meinem Vater«, widersprach sie nach einem kurzen Zögern, »weiß ich aber, dass die Sonne auf der Südhalbkugel im Norden zu sehen ist.«
Er griff sich an den Kopf. »Du hast recht. Dann müssen wir also dort entlang.« Er wies nun in die entgegengesetzte Richtung.
Egal, dachte Rosa, es war wichtig, etwas zu tun, um weiterzukommen.
Ihre Handschuhe waren vollständig durchnässt, deshalb zog sie sie nach einem kurzen Zögern aus und legte sie zum Trocknen in ihren Schoß. Er hatte ihn ja schon gesehen, den Hexenfinger.
»Aber ich fange erst mit dem Rudern an«, sagte Rosa, »wenn du mir deinen Namen verraten hast.«
»Luis.«
Ihr sechster Finger rührte sich nicht.
»Luis also. Und warum machst du so ein Geheimnis daraus? Nennst dich Johann Basilius Martin Scheidegger? Und warum bist du einmal ein Jesuit und dann wieder ein protestantischer Missionar?«
»Tauche die Ruder tiefer ins Wasser, so kommen wir nicht vorwärts.«
Rosa gab sich Mühe, die Ruder tiefer durchzuziehen, obwohl sie sich über seine Verweigerung ärgerte. Dabei presste sie unwillkürlich die Zähne zusammen und spannte ihre Muskeln an. Porca Madonna, war das schwer.
»Gut, und nicht nachlassen.« Luis betrachtete sie ernsthaft. »Ich glaube, du bist zäh genug, du wirst es schaffen. Dann werde ich jetzt eine Runde schlafen.«
Luis knäuelte seinen Talar zusammen und versuchte, ihn so hinzulegen, dass sein Kopf darauf liegen konnte.
Sie bemühte sich, ihren Atem dem Rhythmus des Ruderns anzupassen, weil sie dann mehr Kraft hatte. Immer wieder leckte sie über ihre spröden, aufgesprungenen Lippen, und sie hätte nicht sagen können, ob sie von der Gischt oder vom Schweiß so salzig schmeckten.
Trotz ihrer Anstrengungen kam es Rosa so vor, als würde sich das Boot nirgendwohin bewegen, die Wassermassen um sie herum sahen beständig gleich aus.
Immerhin war da der Vogel, der manchmal verschwand, dann aber plötzlich wieder angesegelt kam und kopfüber nach Fischen ins Wasser stieß.
Er sah ähnlich aus wie die Möwen in Venedig, allerdings war er nicht ganz weiß, sondern hatte schwarze Streifen an
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