Die Hexengabe: Roman (German Edition)
die Spitze nahm. Nun lachte sie auch laut, denn es schien ihr, als könnte der Schmerz so ihren Körper verlassen.
Ihr Lachen schien Nandi zu noch größerer Eile anzuspornen, er trieb die Träger an. Rosa kam es so vor, als würden sie fliegen, ganz wie die Adler.
Vor einer dürftigen Hütte blieben sie schließlich stehen, man setzte den Palankin ab, half Rosa beim Aufstehen und schleppte sie in das dunkle Innere.
Sie konnte mit dem verletzten Bein nicht auftreten, es fühlte sich an, als wäre es zu einem Elefantenbein angeschwollen.
»Das ist Usha, sie wird dir helfen. Aber du musst ihr auch helfen!«, forderte Nandi sie auf.
Rosa erkannte jetzt den Umriss einer alten Frau, die einen schwarzen, merkwürdig gefalteten Turban trug. Dunkle Augen blitzten sie aus einem faltenzerfurchten, braun gegerbten Gesicht an.
Die alte Frau und Nandi unterhielten sich laut in einem Rhythmus, der klang, als ob Hölzer aufeinanderschlagen würden. Rosa fuhr zusammen, hielt sich die Ohren zu, taumelte von der schnellen Bewegung. Nandi und Usha traten zu ihr, stützten sie und legten sie auf eine geflochtene Matte, die auf dem erdigen Hüttenboden lag.
Die beiden zogen ihr die Kleider aus. Wie angenehm! Es war ihr doch so heiß, es war herrlich, die feuchte Luft direkt auf der Haut zu spüren. Als Letztes griffen sie nach ihren Handschuhen. Ein letzter Widerstand regte sich in Rosa, aber wozu? Sie würde sowieso verbrennen, sterben.
Nachdem Usha auch den Handschuh der linken Hand abgezogen hatte, verharrte sie kurz, dann gab sie Nandi scharfe Befehle und begann, mit lautem Singsang um Rosa herumzugehen.
Nandi kam mit einem schwarzen Huhn wieder herbeigestürzt, was die Heilerin mit einem Kopfschütteln quittierte.
Wie komisch die beiden sind, dachte Rosa, was für einen merkwürdigen Tanz führen die hier auf?
Nandi kam mit einem Ei zurück.
Ein Ei, das erinnerte Rosa an die Geschichte von den sieben Eiern, die ihr Dorothea immer erzählt hatte. Ein Ei! Dorothea! Sie würde ihre Schwester finden. Und Kaspar. Sie konnte jetzt nicht sterben.
Plötzlich loderte die Hitze überall auf in Rosas Körper, sogar in ihren Augen. Sie musste sie weit offen lassen, um nicht zu verbrennen. Luis, dachte sie, Luis.
Usha nahm das Ei und schrieb etwas darauf, dabei summte sie leise vor sich hin, etwas, das sich wie Ommm und Allah anhörte. Als sie fertig war, wies sie Nandi mit einer Handbewegung an, einen breiten dicken Stein neben Rosa zu stellen, und bedeutete ihr, dass sie sich darauf hocken sollte.
»Bitte nicht«, stöhnte Rosa, »mir ist so schlecht!«
»Musst du!« Nandi kniete sich neben sie, küsste die Hand mit den sechs Fingern und half ihr, das Gleichgewicht zu halten. Rosa musste sich vorbeugen, dann rollte Usha das Ei auf ihrem gebeugten Rücken hin und her und sprach fremde Worte.
»Was macht sie?«, flüsterte Rosa.
»Das sind heilige Verse, bedeuten: Herr, mir gib einen wahrhaftigen Eingang und wahrhaftigen Ausgang, gib mir Vollmacht und Hilfe.«
Das Rollen des Eis beruhigte Rosa, es fühlte sich fast so angenehm an wie eine Berührung von Luis’ Hand.
Plötzlich hörte Usha damit auf und wies sie gestikulierend an, sich wieder auf die Matte zu legen. Dann hockte sich Usha vor den Stein, auf dem Rosa gerade eben noch gesessen hatte, und zerschlug das Ei, wobei sie wieder Worte, die Rosa nicht verstehen konnte, vor sich hin sang und murmelte.
Rosa kam es so vor, als wäre sie das Innere eines Ofens, ihr Blut flüssiges Metall, wie sie es beim Schmied gesehen hatte.
Usha und Nandi wandten sich ihr wieder zu und flüsterten. Usha holte einen Beutel aus ihrem dunklen Gewand und streute etwas daraus auf Rosa. Diese erkannte den Geruch, Sandelholz, und atmete ihn unwillkürlich tief ein. Jetzt konnte sie ihre Augen wieder schließen, das Letzte, worauf ihr Blick fiel, waren die zerbrochenen Schalen des Eis, und da war sie ganz sicher, dass sie Dorothea finden würde.
43. Kapitel
R osa fand, das Bemerkenswerteste an Ushas Gesicht waren die Querfalten auf ihrer Nase zwischen den weit auseinander stehenden Augen.
Seit einiger Zeit schon war sie wieder bei Bewusstsein und beobachtete die alte Frau, die vollkommen ruhig neben ihr saß und sich nur hin und wieder ein dreieckiges Päckchen in den Mund steckte, das sie vorher mit unendlicher Geduld zusammengestellt hatte. Dazu beschnitt sie mit einer Schere, deren Griffe kunstvoll geschmiedete Vögel darstellten, ein grünes Blatt und entfernte dann mit dem spitz
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