Die Hexengabe: Roman (German Edition)
fragte sie und setzte sich nah zu ihm auf die Pritsche, damit ihr keines seiner Worte entgehen konnte.
»Habibi«, lachte der Junge, bei dem bi-bi verzog sich sein großer Mund zu einem herzzerreißend spitzen Mäulchen, und seine tiefblauen Augen spiegelten sein Lachen.
»Und wie heißt du weiter, Habibi?« Rosa versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl sie den Jungen am liebsten an sich gepresst hätte und mit ihm weggelaufen wäre.
»Kaspar Johannes.« Seine Augen fielen wieder zu. Und sein heißer Kopf sank schwer an Rosas Schulter. Unwillkürlich legte sie die Arme um ihn, presste ihn an sich.
Kaspar! Das war Kaspar!
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hatte ihn gefunden. Sie hatte ihn endlich gefunden.
Ihren Neffen.
Sie schluchzte heftiger, dadurch spürte sie Siranushs Dolch im Rücken, und sie wusste, was Siranush jetzt zu ihr gesagt hätte: Hör sofort auf damit! Heulen hilft nichts, du musst das Kind erst noch hier herausschaffen.
Amatulkarim und Beshir entrissen ihr den Jungen und schubsten sie von der Pritsche. Rosa fiel zu Boden.
Die vermummte Frau an der Säule bewegte sich, und das brachte Rosa endgültig wieder zu sich. Darunter musste sich ihre Schwester verbergen. »Dorothea?«, flüsterte sie in die Richtung der Säule.
Usha begann laut und monoton zu singen. Alle erstarrten. Rosa suchte Ushas Blick. Wollte Usha den Jungen jetzt kastrieren? War das immer schon ihr Plan gewesen, war es nur ihr Verlangen nach vielen Betelpäckchen, das sie bewogen hatte mitzukommen? War das der Grund, warum Usha sofort einverstanden gewesen war, sie zu begleiten, und dann im Harem zu bleiben? Verdammt, wie viel hatte man Usha geboten? Konnte sie das überbieten?
»Nandi«, flüsterte sie, »bitte, ich flehe dich an, ich werde dich mit Gold überschütten, sag Usha, dass sie das nicht machen soll, sag ihr, ich gebe euch euer Gewicht in Gold.«
Voller Angst betrachtete Rosa ihren pausbäckigen Neffen, der so friedlich schlief und nicht wusste, was man ihm antun wollte.
»Sie nichts abschneiden«, erklärte Nandi leise. »Sie heilen Menschen, niemals verschneiden.«
Rosa starrte zu Usha, die immer noch und lauter und lauter schwadronierte, und es kam ihr so vor, als würde sie ihr zuzwinkern.
»Aber was redet sie denn da?«
»Jetzt nicht gute Zeit für Abschneiden, Astrologen haben gerechnet falsch. Sagt, Kind muss sein geleert. Noch warten.«
Rosa spürte weitere Tränen aufsteigen. Usha war auf ihrer Seite, dann gab es noch eine Chance.
Reiß dich zusammen, du musst jetzt endlich deinem Ruf als Nagini gerecht werden!
»Sag Usha, wir müssen allein sein mit dem Kind, sag, wir müssen Geisterzeremonie machen, verdammt, Nandi, mach!«
Nandi übersetzte, und Usha nickte Rosa zu, kam zu ihr her, machte eine Verbeugung, nahm Rosas Hand, und gemeinsam schritten sie zu dem Jungen. Sie schob Rosa auf die rechte Seite des Jungen und stellte sich selbst auf die linke und wandte Rosa ihr Gesicht zu. Dann griff sie nach den Händen von Rosa und hob sie empor, sodass sich eine Art Dach über dem Jungen bildete. Usha begann laut zu singen.
Amatulkarim wechselte mit dem großen Eunuchen Blicke, dann zuckte sie mit ihren massigen Schultern, klatschte in ihre schwer beringten Hände und gab Befehle.
Die vier Frauen, die Kaspars Gelenke gehalten hatten, verließen den Raum.
Gut, dachte Rosa, vier Frauen weniger. Nur noch Amatulkarim und Beshir.
Rosa beobachtete, wie missbilligend Beshir Usha bei ihren Beschwörungen musterte und dabei unruhig hin und her tänzelte. Doch dann schweifte sein Blick zu der vermummten Frau an der Säule, die er geradezu hasserfüllt anstarrte.
Diese Frau hatte Rosa fast schon wieder vergessen. Das musste Dorothea sein. Wer sonst sollte bei der Kastration des Kindes dabei sein? Rosas Herz klopfte schneller. Wenn das wahr wäre, wenn sie alle beide gefunden hätte … Sie wäre gern zu der Frau hingegangen, aber Usha ließ ihre Hand nicht los, und, ganz so, als ob Beshir ihr Interesse gemerkt hätte, stellte er sich jetzt wie ein Hindernis vor die Frau.
Amatulkarim unterbrach Usha rüde, die sich das nicht gefallen ließ.
Nandi übersetzte diesmal sofort. »Amatulkarim will, dass wir essen und feiern, aber, sagt Usha, wir hier bleiben und Kind von Geistern befreien.«
Ja, das war ein genialer Schachzug!
Widerstrebend verließ Amatulkarim den Raum, und es blieben außer ihnen nur die vermummte Frau und Beshir zurück. Allerdings hatte Rosa die Wache vor der Tür gesehen.
Sie mussten
Weitere Kostenlose Bücher