Die Hexengabe: Roman (German Edition)
wenn Ihr wirklich ein Christ seid. Es geht nicht, dass Ihr mich hier herumtragt.«
Der Priester grinste sie an. »Euch in dem Zustand humpeln zu lassen wäre nicht nur unchristlich, sondern auch ungalant.«
Rosa begann zu strampeln, doch er verstärkte nur seinen Griff und presste sie enger an sich. Gerade als Rosa empört schreien wollte, fiel ihr auf, dass man sie anstierte.
Eine eigentümliche Stille legte sich über den Hof, alle erstarrten für einen Moment und gafften sie an.
Er kann nichts von meinem Hexenfinger wissen, sonst würde er das nicht tun, überlegte Rosa. Sie schloss kurz die Augen, um die Blicke nicht mehr auf sich zu fühlen.
Der Katholik zuckte mit den Schultern und warf einen abfälligen Blick auf die glotzenden Arbeiter.
»Das bin ich gewohnt – in Nürnberg mögen sie keine Katholiken. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht eines Tages tot auf dem Hauptmarkt zusammenbreche. Die wären imstande, mich dort wie einen Mörder verrotten zu lassen.« Er lachte hell auf und beschleunigte seinen Schritt Richtung Dürerhaus.
Rosas Herz raste bei der Vorstellung, was ihre Mutter dazu sagen würde, dass ihre Hexentochter sich von einem Katholischen nach Hause tragen ließ.
»Lasst mich endlich runter. Ihr habt genug Barmherzigkeit für den ganzen Rest der Woche geübt. Woher wisst Ihr überhaupt, wohin Ihr gehen müsst?«
»Dobkatz erwähnte es, bevor Ihr kamt. Was wisst Ihr über Baldessarini und Dobkatz?«, fragte er und beugte sich so tief über Rosa, dass sie seinen Geruch einatmen konnte. Eine Mischung aus Lavendel, Holz und Lederfett.
»Warum fragt Ihr mich das? Lasst mich lieber augenblicklich runter, sonst schreie ich.«
Der Priester ging noch schneller und machte keine Anstalten, sie abzusetzen. Schweißperlen tropften von der Stirn in seine dunklen Augenbrauen.
»Ihr solltet Euch von den beiden fernhalten«, keuchte er. »Keiner von beiden ist das, was man einen Ehrenmann nennen könnte.«
»Aber Ihr vielleicht, einer, der wie taub auf Bitten einer Frau reagiert?«, fragte Rosa.
»Natürlich, ich bin schließlich Priester.« Während er das sagte, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht und machte es zu Rosas großem Ärger irgendwie anziehend.
Doch ihr sechster Finger wurde kalt. Dieser Ehrenmann log also auch.
»Und wie nennt man Euch?«, fragte sie.
»Johann Basilius Martin Scheidegger – und Ihr?«
Ihr Finger wurde schneidend kalt.
»Rosa«, begann sie, doch da unterbrach er sie schon wieder.
»Und Ihr wollt also nach Indien?«, fragte der Priester weiter.
Rosa suchte in seinem schmalen Gesicht nach diesem verächtlichen Grinsen, das jeder Mann gehabt hatte, der von ihrem Plan gehört hatte. Aber sein Gesichtsausdruck war völlig ernst.
Sie nickte.
»Ihr werdet Eure Gründe haben, aber wieso wollt Ihr über Venedig reisen? Über Amsterdam wäret Ihr doch viel schneller.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weil ich dachte, ich käme mit Baldessarini dorthin, aber nun brauche ich ja offensichtlich einen neuen Plan.«
»Ihr seid also nicht davon abzubringen?«
»Der Rat hat nur unter einer Bedingung eingewilligt, uns die Werkstatt meines Vaters weiterführen zu lassen, nämlich der, dass ich einen männlichen Erben herschaffe.«
»Warum geht Ihr und Eure Familie nicht einfach fort aus Nürnberg?« Er sah hinüber zur Sebalduskirche, als wäre es nur eine Ansammlung hässlicher Steine.
»Weil wir große Schulden haben und es meiner Mutter das Herz brechen würde, und weil es mir das Herz brechen würde, das Haus meines Vaters zu verkaufen. Das hier ist unsere Heimat. Wo sollten wir denn hin, wovon sollten wir leben? Meine Schwestern sind schwach, meine Mutter abgearbeitet – sie würden es nicht überleben.« Und, dachte Rosa, was sonst kann ich, die Frau mit dem teuflischen Zeichen, anderes tun, als das Lebenswerk meines Vaters zu bewahren? Für mich kann es kein anderes Leben geben.
Der Priester senkte seinen Kopf ganz nah zu ihr hin. Sein Lächeln war so warm, und gleichzeitig schwebte noch etwas anderes darin, das Rosa nicht einordnen konnte. Niemand hatte sie je so angesehen. Seine Augen wirkten gar nicht mehr eisig, sondern wie durchglüht. »Nicht viele Menschen denken zuerst an ihre Familie und dann an sich. Wie kommt es, dass Ihr so wenig Angst habt?«
»Aber ich habe Angst.« Die Worte waren ihr entwichen, bevor sie darüber nachgedacht hatte. »Ich habe sogar schreckliche Angst, weil ich nichts weiß von der Welt.«
Der Katholik beugte sich noch tiefer
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