Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Ich freue mich«, er drehte sich wieder zu Rosa, »dass du uns begleiten wirst. Wir sehen uns dann.« Mit diesen Worten schritt er zu dem kleinen Fenster, streckte den Kopf hinaus, legte die Finger an den Mund, pfiff durchdringend, drehte sich dann wieder um und grinste. »Meine Knechte kommen sofort. Gehabt Euch wohl!« Er zwinkerte Rosa zu und verließ dann die Werkstatt.
Gleich darauf polterte es an der Tür, die Knechte wurden von Toni hereingelassen, griffen sich die Fässer und schleppten sie nach draußen.
Rosa brachte nur ein kurzes »Ade« hervor und stürmte die Stiege empor. Diesmal spürte sie ihren Knöchel gar nicht mehr, so aufgeregt war sie. In ihrer Kammer setzte sie sich auf ihre Betttruhe, um sich zu fassen, bevor sie den Brief las. Ihr Blick fiel auf ihren purpurnen Handschuh. Unmöglich. Giacomo hatte sich bestimmt einen Scherz erlaubt, so wie er auch ohne ein Wort den Brei vertilgt hatte, einfach nur aus Spaß an der Komödie.
Mit bebenden Fingern klappte sie das Buch auf. Es war der Gracián, in dem der Zettel steckte. Sie entfaltete das Blatt und begann zu lesen.
»Meine geliebte Rosa Sibylla …«
Als sie die Schrift ihres Vaters erkannte, konnte Rosa nicht weiterlesen, weil ihr die Luft zum Atmen fehlte. Ihr Herz schlug noch heftiger als vorhin auf der Treppe, und die Wände des Zimmers begannen sich um sie zu drehen. Ihre Augen flogen über den unverhofften Fund.
Meine geliebte Rosa Sibylla,
mit der Wahrheit ist es so eine Sache, bisher habe ich es mit dem großen Gracián gehalten und, ohne zu lügen, nicht alle Wahrheiten gesagt. »Denn man kann nicht alle Wahrheiten sagen. Die einen nicht unserer selbst wegen, die anderen nicht des anderen wegen.« Ja, so schreibt der große Gracián, aber was hilft es? Was hilft es mir?
Immer wenn ich Dich anschaue, gerate ich in große Zweifel, ob es nicht doch Dein Recht wäre, alles zu erfahren.
Die nächsten Worte waren fast bis zur Unkenntlichkeit durchgestrichen, doch Rosa vermochte noch zu lesen
Aber dann wieder fürchte ich Deine Mutter …
Der darauffolgende Satz war wieder deutlich, obwohl des Vaters Schrift immer krakeliger wurde, gerade so, als hätte er es eilig gehabt.
Denn Du bist ja kein Mensch von finsterer Gemütsart, Du stempelst nicht alles zum Verbrechen, Du wirst kein Verdammungsurteil über jene aussprechen, die Du liebst. Du hast ein edles Gemüt und bist in der Lage, eine Entschuldigung zu finden. Doch es liegt eben nicht allein in meiner Hand
An dieser Stelle brach der Brief ab.
Rosa las den Brief noch zweimal, weil die Buchstaben teilweise vor ihren Augen verschwammen und sie ihren Sinn nicht erfassen konnte.
Dieser Brief warf mehr Fragen auf, als er beantwortete. Warum hatte der Vater ihr überhaupt geschrieben? Und was hatte er sagen wollen? Einem Impuls folgend, sprang Rosa von der Bettstatt. Sie musste die Mutter sogleich mit diesem Brief konfrontieren. Warum hatte er geschrieben: › fürchte ich Deine Mutter ‹ und wieder durchgestrichen? Hatte ihre Mutter irgendeine finstere Macht über ihn gehabt, und wenn ja, welche?
Rosa raffte ihren Rock und humpelte nach unten in die Küche, wo sie ihre Mutter mit den Zwillingen fand. Sie war gerade dabei, den beiden Mädchen eine bräunliche Tinktur in den Hals zu träufeln, was die beiden nur mit viel Wehklagen über sich ergehen ließen.
»Das brennt! Das schmeckt widerlich, lass mich, so schlimm ist es gar nicht!«, riefen sie abwechselnd, und ihre Mutter flüsterte nur »Schschschsch«, als sollten die beiden jetzt zu Bett gehen. Diese freundliche, warmherzige Beschwichtigung, die die Mutter so zu ihr noch nie gesagt hatte, schnitt Rosa ins Herz. Und dann tupfte die Mutter den beiden auch noch die Stirn ab, als wären es kostbare Reliquien.
»Mutter, sieh mal, was ich da gefunden habe.« Rosa reichte ihr den Brief.
»Noch eine von seinen vielen Schuldverschreibungen?«, fragte ihre Mutter, nur mäßig interessiert.
Doch dann, als ihre Augen erfassten, was auf dem Papier stand, ließ sie sich neben den Zwillingen auf die Holzbank sinken, ihr Mund, der schwerfällig die Worte mitlas, nur mehr ein schmaler Strich im aschgrauen Gesicht. »Der Elende, dieser Elende.«
»Man soll doch nicht fluchen«, ließ sich Maria krächzend vernehmen, und Eva kicherte, bis das Kichern zu einem Husten wurde.
»Haltet den Mund!«, fuhr die Mutter die beiden an, dann stand sie auf, zerknüllte das Blatt Papier und warf es in den Zinkeimer zu den Holzspänen.
»Da siehst du,
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