Die Hexengabe: Roman (German Edition)
den Papierabzug, den sie von ihrem ersten, unglaublich grob geschnitzten Holzdruck gemacht hatte und von dem sie geglaubt hatte, er sei längst verrottet.
Er aber hatte ihn aufbewahrt.
Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, und ihr Fund bestärkte Rosa darin, dass er diesen Brief zu Ende geschrieben haben musste.
Doch sie fand nur noch weitere Skizzen und einige fein ausgeführte Stiche, die sie noch nie gesehen hatte. Ungeduldig zog sie die Lade heraus und schüttete ihren Inhalt auf den Tisch, aber es gab keinen Brief, und die Lade hatte auch kein Geheimversteck.
Rosa seufzte enttäuscht und sortierte die Skizzen und Entwürfe wieder in die Lade. Als sie zu den Stichen kam, hielt sie inne.
Was waren denn das für merkwürdige Bilder? Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Spielkarten, doch auf den zweiten Blick wurde Rosa klar, dass das nicht sein konnte, denn es fehlte jedwede Zahl. Und es konnte auch kein Entwurf für ein Wissensspiel sein, denn auf diesen Bildern stand keine Information, nichts. Nachdenklich nahm sie den ersten Stich in die Hand. Er zeigte eine Nachtszene, ein brennendes Haus. Rosa beugte sich tiefer darüber, um die Details besser erkennen zu können. Es war ein Haus mit einem Geschäft im Erdgeschoss, dessen Tür rechts und links von zwei großen Fenstern flankiert wurde. Über der Tür, direkt unter dem mittig angebrachten Chörlein, hing ein fein geschmiedetes Schild. Rosa kniff ihre Augen zusammen, um zu erkennen, was auf dem Schild stand. »Apotheke zur Goldenen Kanne«.
Das war die Apotheke, die ihren Großeltern gehört hatte und ein paar Jahre nach ihrer Geburt ausgebrannt war.
Aber warum hatte ihr Vater das als Kupferstich gestochen? Es war ein schreckliches Bild, das die Wucht des Feuers nur allzu deutlich zeigte: Der obere Stock war schon fast ganz ausgebrannt, Flammen hatten das Dach bereits weggefressen, die Luft war erfüllt von Asche und Funken.
Keine Menschenseele war auf dem Bild zu sehen, nur eine kleine Katze, die links von der Apotheke ihren Schwanz leckte.
Rosa legte das Bild zurück und griff nach dem nächsten. In dessen Mittelpunkt war ein brennender Handschuh zu erkennen, aber irgendetwas war merkwürdig daran. Als ihr klar wurde, was es war, rann ein Schauder über ihren Rücken, und all ihre Härchen stellten sich auf: Der Handschuh hatte sechs Finger.
Der brennende Handschuh war umgeben von sieben Wappen, die alle einen geteilten Schild zeigten, vorne den schwarzen, rotbezungten halben Adler und rechts die schrägen Balken, rot und weiß. Siebenmal das Stadtwappen von Nürnberg. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Wieder waren keine Menschen zu sehen, lediglich drei Tiere. In der linken unteren Ecke des Bildes war ein Walfisch, aus dem eine Wasserfontäne nach oben spritzte. Auf der Fontäne schwamm ein Zeichen. Es erinnerte Rosa an einen Orden, denn es setzte sich zusammen aus einem Malteserkreuz, zwischen dessen offenen Enden sich stilisierte Lilien befanden, und einem Ring mit einer weißen Taube. Und in der linken Ecke schlich eine Katze mit einer weißen Taube im Maul aus dem Bild.
Rosa hatte nicht die geringste Ahnung, warum ihr Vater diese Bilder gestochen hatte, und ihr Anblick verstörte sie mehr, als es der begonnene Brief getan hatte.
Oder war das vielleicht nur eine Auftragsarbeit, von der er ihr nichts erzählt hatte? Das war gut möglich. Sie wusste zum Beispiel, dass der Vater einmal ein unanständiges Kartenspiel mit nackten Weibern darauf für einen Hohenzollern-Prinzen gestaltet hatte, an dem er nur dann arbeitete, wenn seine Töchter schon im Bett waren. Rosa hatte es nie gesehen, nur davon gehört, als ihn die Mutter empört zur Rede stellte. Es hatte ihm Spaß gemacht, kleine Geheimnisse zu haben.
Aber warum hatte der Handschuh sechs Finger? Niemand wusste, wie ihre Missbildung aussah. Und warum brannte der Handschuh? War es Ausdruck seiner Verachtung?
Nein, diese Art Gedanken waren des Vaters nicht würdig. Er hatte sie geliebt.
Mit Schwung schob Rosa die Lade mit ihrer Hüfte wieder zurück unter den Tisch. Sie sah sich in der Werkstatt um. Wo hätte sie sonst noch nach einem Brief suchen sollen?
»Rosa?« Ihre Mutter rief nach ihr. Sie waren schon wieder zurück, und sie hatte noch kein Stück von der Wäsche gebügelt, sondern war im Gegenteil über und über voller Staub.
»Rosa, was hast du getrieben? Wenn du nicht einmal so einen einfachen Auftrag wie Wäsche bügeln ausführen kannst, wie willst du es da jemals bis nach Indien
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