Die Hexengabe: Roman (German Edition)
konnte Rosa es kaum erwarten weiterzukommen. Am liebsten wäre sie die Nächte durchgefahren, um schneller ans Ziel zu gelangen, doch niemand außer ihr schien diesen Wunsch zu haben.
Die Tage waren, so öde sie sich auch dahinschleppten, noch viel erträglicher als die Abende, wenn die Männer sich Bier oder Wein fassweise in die Kehle schütteten und mit den Wirtsmägden herumschmusten. Dann blieb Rosa für sich.
In den Wirtshäusern sollte sie zwar eigentlich mit all den betrunkenen Reisenden auf einem Lager aus Stroh schlafen, aber das war ihr angesichts der nächtlichen Geräusche unmöglich. Es wurde so herzhaft gefurzt und geschnarcht, als ob Wölfe in die Flucht getrieben werden sollten. Wann immer es möglich war, packte Rosa ihren wollenen Umhang, den sie als Decke verwendete, verließ das Lager und suchte sich einen Platz unter freiem Himmel, wo sie die angenehme Luft genoss und in den Nachthimmel starrte.
Manchmal, wenn sie so dalag, wünschte sie sich Giacomo zu sich, weil er der Einzige war, der ab und zu das Wort an sie richtete und mit ihr scherzte. Er versuchte, ihr Italienisch beizubringen, und ließ sich von ihr im Gegenzug Kartenspiele erklären.
Doch er kam nie nachts. Wahrscheinlich wusste er gar nicht, dass Rosa draußen schlief, denn er und Baldessarini nächtigten stets in einer speziell hergerichteten Kammer, wo sich Diener um Wasser und saubere Wäsche kümmerten.
So blieb sie also allein, und wenn sie bei einem wolkenlos klaren Himmel das Sternbild des Sirius erkennen konnte, fiel ihr wieder ein, was Toni mit unheilschwangerer Stimme beim Abschied gesagt hatte: »Wenn einer an den Hundstagen auf Reisen geht, kommt er gemeiniglich ungesund wieder nach Haus oder erleidet am Leib und seinen Sachen Schaden.« Und dann hatte Toni verlangt, dass Rosa beim Abschied rückwärts durch die Tür gehen sollte, was ihre Mutter für Blödsinn erklärt und verboten hatte.
Wenn Rosa daran dachte, erinnerte sie sich auch an die letzte Begegnung mit ihrer Mutter.
Diese hatte ihr einen stärkenden Reisetrunk aus Ingwer, Rosmarin und Johannisbeersaft gereicht und den Tobiassegen für sie gesprochen:
»Möge Gott dich behüten über Feld und durch Wald vor aller Not, Hunger und Durst, vor bösem Gelüst, vor Hitze und Frost. Gott behüte dich vor dem Tode, ob du schlafest oder wachest, im Wald oder unter Dach. Gesegnet sei dein Weg über Straße und Steg, vornen und hinten.«
Rosa hatte gehofft, dass die Mutter sie nach dem Segen dieses eine Mal umarmen würde. Es war ja vielleicht ein Abschied auf immer. Doch nicht einmal in diesem Moment war die Mutter ihr nahe gekommen.
Nicht einmal da.
Die Zwillinge hatten unablässig geschluchzt und ständig gefragt, ob sie auch ganz bestimmt zurückkommen würde, und Toni hatte sich verstohlen Tränen aus den Augenwinkeln getupft. Nur ihre Mutter schien völlig ungerührt. Beinahe, als ob sie erleichtert war, Rosa aus dem Weg geschafft zu haben.
War das wirklich nur wegen ihres Hexenfingers? Oder hatte es etwas mit dem Brief zu tun, den ihr Vater ihr hatte schreiben wollen?
Rosa hätte es nie für möglich gehalten, dass Reisen so ermüdend war. Und je länger sie unterwegs war, desto mehr graute ihr davor, sich später in Venedig allein zurechtfinden zu müssen, wo sie nicht einmal die Sprache verstand. Deshalb gab sie sich große Mühe, alles, was sie von Giacomo lernte, auch zu behalten.
Einmal abends in einem der lauten, verrußten und stickigen Gasthäuser hatte Rosa gehört, wie sich die drei gemieteten Söldner, die den Trupp begleiteten, darüber unterhielten, wie sehr der Baldessarini seinen Schwager hasste, was Rosa erstaunt hatte, denn wann immer sie die beiden zusammen erlebte, benahmen sie sich wie Brüder. Überhaupt mussten sich die Söldner geirrt haben, niemand konnte Giacomo hassen. Er war immer gut gelaunt und hatte für jeden ein freundliches Wort. Mittlerweile ertappte sich Rosa immer häufiger dabei, dass sie regelrecht auf ihn wartete.
Zu Beginn der Reise war ihr jedes Mal heiß und unbehaglich geworden, wenn er zu ihr geritten kam, weil sie dann an ihren Irrtum wegen des Briefes erinnert wurde. Den Brief hatte sie in einen winzigen Lederbeutel in ein Mieder eingenäht, damit er ihr auf der Reise nicht abhandenkam. Sie las ihn jeden Abend, auch wenn sie ihn schon auswendig konnte. Es beruhigte sie, die Schrift ihres Vaters zu sehen.
Natürlich wusste Giacomo von der ganzen Briefsache nichts, und das war auch gut so, denn jetzt, da
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