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Die Hexengabe: Roman (German Edition)

Die Hexengabe: Roman (German Edition)

Titel: Die Hexengabe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Mannel
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Sicherheit«, flüsterte die Frau und betupfte Rosas Lippen mit etwas Feuchtem.
    Unwillkürlich leckte Rosa darüber. Die Frau wiederholte die Geste und murmelte, begleitet von dem leisen Klingeln ihres Schmucks, dabei unablässig vor sich hin: »Gut, Achtschigges, gut machst du das. Dann wollen wir doch mal sehen, ob du auch schon trinken kannst.« Die Frau hielt einen Lederschlauch an Rosas Lippen.
    Wasser tropfte in Rosas Mund. Zuerst hatte Rosa große Mühe zu schlucken, weil ihre Kehle derart ausgetrocknet war, aber mit jedem Wassertropfen, den sie hinunterbrachte, ging es leichter.
    »Shad lav, gut!«
    Rosa trank, bis sie nicht mehr konnte. Das erschöpfte sie so, dass sie wieder einschlief. Aber sie wurde unsanft geweckt.
    »Du solltest nicht schlafen, du musst wach bleiben und noch viel, viel, viel mehr trinken, sonst stirbst du, Achtschigges.«
    Rosa stöhnte. »Müde«, krächzte sie, »so müde.«
    »Ich weiß, ich weiß … meine Kleine. Aber wenn Gott gewollt hätte, dass du stirbst, dann hätte er mich nicht zu dir geschickt. Ich werde dir eine Geschichte erzählen, eine ganz wunderbare Geschichte aus dem Land meines Volkes. Aus Armenien. Die Geschichte von der Sonnenjungfrau Arevhat und dem Drachenprinzen. Doch zuerst trinkst du noch ein bisschen.«
    Rosa wollte nichts mehr trinken, und sie wollte auch keine Geschichte hören, sie wollte einfach nur schlafen. Doch der Lederschlauch wurde wieder in ihren Mund gezwungen, und wenn sie nicht ersticken wollte, dann musste sie schlucken. Dann wurde ihr Kopf getätschelt, und eine raue Stimme begann zu erzählen.
    »Es war einmal ein König, der hatte keine Kinder und war darüber sehr traurig. Eines Tages sah er eine Schlange mit ihren Kindern, und das machte ihn noch trauriger, und es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Gott, sagte er, du behandelst mich schlechter als eine Schlange, dabei gebe ich mir alle Mühe, ein guter und gerechter König zu sein.«
    Rosa lauschte unwillkürlich, weil die Stimme sich wohltuend über das Stechen in ihren Rippen legte und sie zum Wegdämmern brachte. Aber die Frau verhinderte jedes Mal, dass sie wirklich einschlief, und zwang sie, etwas zu trinken. Rosa verlor jedes Zeitgefühl, es schien ihr ewig so hin und her zu gehen. Und als die Armenierin sagte:
    »Drei Äpfel fielen vom Himmel, einer für den Erzähler dieser Geschichte, einer für den Zuhörer und einer für den, der die Worte des Erzählers beachtet. Und jetzt, Achtschigges, hast du genug getrunken und darfst schlafen.« Da hätte Rosa nicht sagen können, wie viele Geschichten sie ihr erzählt hatte.

14. Kapitel
     
    W asser tropfte unablässig auf Rosas Augenlider, trommelte auf ihre Wangen, sammelte sich in ihrer Halsgrube, suchte sich dann den Weg nach rechts oder links, wo es in den Fetzen ihrer Kleidung versickerte.
    Dort, wo der Platzregen auf die Straße traf, klang er wie ein Salvenfeuer, vermischte sich mit dem Knirschen und Ächzen des Karrens, auf dem Rosa lag. Mit jeder Umdrehung der Räder wurde ihr Leib hin und her gerüttelt, jede Umdrehung war ein Dolchstoß in ihren Rücken. Nur ihr Kopf war noch immer weich in den Schoß der klimpernden Frau gebettet.
    Rosa öffnete ihr rechtes Auge und konnte nur blinzeln, weil die Regentropfen unentwegt durch ein Loch in der Plane platschten. Unwillkürlich hatte sie auch ihr linkes Auge bewegt, sie freute sich, dass es sich auch ein wenig öffnen ließ. Allerdings noch nicht so weit, dass sie viel sehen konnte.
    Wozu auch? Rosa schloss ihre Augen. Sollte der Regen sie doch fortspülen, weit, weit fort.
    Die Frau summte eine sehr traurige Melodie, die Rosa seltsam fremd vorkam, anders als alles, was sie je gehört hatte. Trotzdem fühlte sie sich getröstet.
    »Du musst dich etwas bewegen, Achtschigges«, flüsterte die Frau. »Du darfst jetzt nicht aufgeben«, fügte sie hinzu und summte dann wieder weiter.
    Rosa ignorierte ihre Worte und lauschte dem Summen, hoffte, wieder einzuschlafen, doch plötzlich wurde ihr sechster Finger erst warm, dann heiß, als würde ein Feuer in ihm brennen. Sie umfasste ihn mit ihrer rechten Hand, um ihn zu kühlen, zu beruhigen, und war entsetzt, als sie die nackte Haut fühlte. Ihr Handschuh war weg! Jeder konnte ihren Hexenfinger sehen, jeder!
    Sie hob den Kopf und versuchte, sich trotz ihrer Schmerzen aufzusetzen. Wenn die Frau den Finger sah, würde sie sie vom Karren werfen.
    »Gut, versuch es!«, ermunterte sie die Frau. »Höchste Zeit. Du hast jetzt drei Tage fast

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