Die Hexengabe: Roman (German Edition)
nur geschlafen, und alle deine Wunden beginnen zu heilen. Du wirst sogar wieder schön sein. Aber du musst deinem Körper dabei helfen.«
Sie half Rosa, sich aufzusetzen, sodass sie beide durch das offene Ende des Verdecks nach draußen sehen konnten.
Sie durchfuhren eine weite Ebene, an deren Ende schneebedeckte Berge aufragten. Ein paar Wagenlängen entfernt strömte ein eisgrüner Fluss parallel zum Weg. Auf der anderen Seite des Flusses erkannte Rosa Weinstöcke, deren üppige Traubenbüschel vom Regen nass waren und goldgelb in der eben durchbrechenden Sonne schimmerten.
»Sieh mal.« Die Frau deutete schräg hinter Rosa. Rosa drehte sich sehr langsam um, konnte kaum atmen, weil diese Bewegung das Stechen in ihrem Rücken verstärkte. Doch als sie es geschafft hatte, schnappte sie überrascht nach Luft. Ein prächtiger Regenbogen überspannte die weite Ebene.
»Ein gutes Omen«, stellte die Frau fest und nickte, was ihren Schmuck zum Klingeln brachte.
Omen … Rosa umklammerte ihren sechsten Finger, der von allen für ein schlechtes Omen gehalten wurde. Die Frau bemerkte ihre Bemühungen und grinste breit, sagte aber nichts. Rosa versteckte den immer noch warmen Hexenfinger weiter in der Hand und musterte die fremde Frau ausgiebig.
Auch wenn deren Kleider jetzt triefend nass vom Regen herabhingen, beeindruckte Rosa, was sie sah. Die Frau trug eine prächtige taillierte, dunkelblaue Überjacke, die von den Schultern bis zur Taille und von der Taille bis zu den Oberschenkeln reich mit roten Perlstickereien und silbernen Metallplättchen verziert war. Unter der Jacke bauschte sich ein dunklerer Rock, unter dem ein weiterer Rock mit einer breiten, stickereiverzierten Passe hervorlugte. Um den Kopf hatte sie ein weißes, gehäkeltes Tuch geschlungen, das ihr schwarz wie Rabenfedern glänzendes Haar nicht ganz verdeckte. Die Haut dieser Frau wies keine tiefen Falten auf, aber sie erinnerte Rosa an sehr altes, stark beanspruchtes Leder. Dunkle, eng an der gewaltigen Nase stehende Augen, die von den üppigen Brauen beinahe erdrückt wurden, schienen Rosa spöttisch zu betrachten. Der blasse, schmale Mund gab den Blick auf wenige bräunliche Zähne frei. Der Hals und die Handgelenke waren mit Silber- und Goldreifen bedeckt, und die Ohrläppchen wurden von den schweren goldenen Ringen darin in die Länge gezogen.
Sie selbst hingegen sah erbärmlich aus. Ihre Kleider waren nur mehr Fetzen, und ihr Körper war über und über mit rotem Brei bedeckt. Was war das, getrocknetes Blut? Ihr linker Arm war bis zum Handgelenk bandagiert und mit einem Stock geschient.
»Warum tun Sie das alles für mich? Wer sind Sie überhaupt? Und wohin fahren wir?« Rosa zeigte auf den Mann, der den Esel, der den Karren zog, beständig vorantrieb.
»Es geht dir also besser, shad lav«, stellte die Frau fest. »Aber das sind viele Fragen auf einmal. Ich bin Siranush Gargarian, und wie ist dein Name?«
»Rosa«, murmelte Rosa müde, während sie über diese Worte nachdachte. Besser, ha! Ja, es ging ihr besser, was für ein Witz. Aber die Frau hatte recht, immerhin lebte sie.
Doch dann fiel ihr Giacomo ein. Tränen schossen Rosa in die Augen. Sie hatte ihn den Geiern überlassen.
»Nananana … Achtschigges, Rosa, diese Heulerei ist nicht gut.«
Rosa warf der Frau einen wütenden Blick zu, was wusste die schon? Aber als ihre Augen sich begegneten, schrumpfte Rosas Zorn. Noch nie hatte sie in den Augen einer Frau so einen Schmerz gesehen, nicht einmal in den Augen ihrer Mutter, als der Vater gestorben war. Doch bei allem Leid war da noch etwas anderes, ein Funkeln. Was hatte die Frau gesagt, wie ihr Name war … Es hatte sich wie Siranusch angehört, ein seltsamer Name.
Der Karren schwankte gefährlich an der Kante eines großen Talkessels entlang. Rosa musste ihre Hexenhand freigeben und sich mit der rechten Hand am Karren festhalten, wenn sie nicht aufs Gesicht fallen wollte.
Siranush betrachtete nun offen Rosas Missbildung und lächelte.
»Glaub mir, wenn du dich hoffentlich bald ausgeheult hast, wirst du es verstehen. Es gibt weniges, was wirklich zählt, und das sind das Überleben, die Familie und das Geld natürlich.«
»Was ist mit …«, Rosa zögerte, »… mit den Toten am Berg geschehen?«
Die Frau zuckte die Achseln, was die Armreife leise zum Klingen brachte. »Die Geier haben sie gefressen. Es waren zu viele für Carlo und mich. Wir mussten entscheiden, ob wir dich retten oder die Toten begraben wollen.«
Rosa schlug
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