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Die Hexengabe: Roman (German Edition)

Die Hexengabe: Roman (German Edition)

Titel: Die Hexengabe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Mannel
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die rechte Hand vors Gesicht, befühlte ihre Augen und dachte schaudernd an Giacomo und den Geier.
    Aber diese Geier fraßen keine Knochen, nur Aas. Sie würde zurückkommen und seine Knochen begraben. Und sie musste in Venedig Giacomos Schwester aufsuchen, ihr davon erzählen, wie ihr Bruder gestorben war.
    »Warum er und nicht ich?« Die Worte waren ihr lauter entschlüpft, als sie es gewollt hatte.
    »Dafür wird es einen Grund geben, du wirst eine Aufgabe haben. Gott ist groß.«
    Gott? Rosa hätte am liebsten ausgespuckt. Ja, es hieß, Gottes Pläne seien unergründlich, aber warum ließ er eine Verhexte wie sie am Leben?
    Siranush klatschte in die Hände. »Schluss jetzt mit diesem Unfug. Was hattest du überhaupt bei diesen Leuten zu suchen? Warst du die Geliebte von dem jungen, hübschen Kerl?« Die Frau grinste jetzt breit und fuhr sich obszön mit der Zunge über ihre Lippen. Rosa hätte sie am liebsten geschlagen und beschimpft, doch alles, was sie herausbrachte, war ein ersticktes »Nein«.
    »Dann verstehe ich, dass du dich grämst. Man sollte die guten Gelegenheiten nicht verschwenden. Nie. Man weiß ja nie, was Gott an der nächsten Ecke für uns vorgesehen hat.« Jetzt lachte die Frau, so breit, dass Rosa ihre wenigen Zähne bewundern konnte.
    »Oder, Carlo?«, brüllte die Frau nach vorn zu dem Mann auf dem Kutschbock, der sich daraufhin umdrehte und zurückbrüllte: »Was immer du willst, Siranush, was immer du willst. Du weißt, ich gehöre ganz dir!«
    Rosa vergaß ihren Zorn augenblicklich, als sie das Gesicht des Mannes sah. Eine Seite war überwuchert von dicken, trockenen, schuppigen Hautplatten, unter denen ein winziges Auge hervorstarrte, die andere Seite zeigte normale Haut, und dieses Auge wirkte dreimal so groß wie das zwischen den Hautplatten. Der Mann lächelte, allerdings nur mit einer Hälfte des Mundes, weil sich die Seite mit den Hautplatten kaum bewegte.
    Unwillkürlich fasste Rosa mit der Rechten an ihre Hexenhand. Die konnte sie wenigstens verstecken. Es musste entsetzlich sein, immer und dauernd von allen angestarrt zu werden.
    Carlo winkte und drehte sich wieder um.
    Rosa schwindelte es. In ihrem Kopf drehte sich alles, Baldessarini, der Räuber auf ihrem Leib, der Regenbogen, ihr Vater, Giacomo, die Geier, dieses Monstergesicht, ihre Hand, der lachende Ratsherr, ihre Mutter … Sie sank zurück auf den Karrenboden. Wie lächerlich sie war. Da hatte sie behauptet, ihren Neffen aus Indien nach Hause zu holen, und jetzt lag sie hier, ein dreckiger, schmerzender Haufen Knochen und Fleisch, geschändet, ohne Kleider und ohne Geld.
    Wie hatte sie glauben können, dass ausgerechnet sie das schaffen würde? Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was aus ihr werden, geschweige denn, wie sie nach Indien kommen sollte.
    Die Frau hatte sich über sie gebeugt, wischte kopfschüttelnd Rosas Tränen ab und bettete ihren Kopf wieder auf ihren Schoß.
    »So schlimm sieht Carlo nun auch wieder nicht aus«, murmelte sie. »Diese ständige Heulerei ist nicht gut für dich, Achtschigges.« Sie kramte in der Tasche ihrer Jacke.
    »Schau mal, das hier habe ich unter dir gefunden. Es muss irgendwo herausgefallen sein.« Die Frau reichte ihr einen kleinen Lederbeutel. Rosa erkannte ihn sofort. Der Beutel mit dem Brief ihres Vaters. Meine geliebte Rosa Sibylla …
    Sie weinte noch heftiger, was Siranush zum Kopfschütteln brachte.
    »Dann werfen wir das besser weg.« Die Frau machte Anstalten, ihr den Brief abzunehmen, aber Rosa hätte sich eher ermorden lassen, als das Einzige, was von ihren Sachen übrig geblieben war, herzugeben. Sie stieß die Frau vor die Brust, so fest sie konnte. Die sah überrascht auf, dann grinste sie zufrieden.
    Rosa beruhigte sich.
    Der Brief ihres Vaters. Gleich morgen würde sie ihn wieder an ihr Mieder annähen. Ihn zu verlieren würde den Erfolg ihrer Reise gefährden. Das durfte nicht geschehen.
    Diese merkwürdige Frau hatte recht, sie war nur deshalb noch am Leben, weil sie ihre Aufgabe erfüllen sollte.
    »Ich kann die Schrift deiner Sprache nicht lesen, deshalb weiß ich nicht, was drinsteht. Ein Liebesbrief?«
    Rosas Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »In gewisser Weise, ja.« Sie straffte sich, soweit das mit den Schmerzen im Rücken ging. »Also, jetzt sag mir, warum du mich gerettet hast.« Sie gab es auf, die Frau zu siezen.
    »›Tu was Gutes, und wirf es ins Wasser‹, sagen wir in Armenien.« Die Frau grinste jetzt sehr breit. »Und als ich deine

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