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Die Hexengabe: Roman (German Edition)

Die Hexengabe: Roman (German Edition)

Titel: Die Hexengabe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Mannel
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ihre Tränen bemerkte, wollte sie wissen, was diese unschuldigen Handschuhe aus feinem Glacéleder denn nun schon wieder verbrochen hätten. Rosa hatte nur mit den Schultern gezuckt und versucht, sich zu beruhigen. Eines Tages würde sie Siranush die ganze Geschichte erzählen …
     
    Jetzt stand Rosa auf der Messe in Bozen und sollte der Engel der Wahrheit sein. Ihre Beine zitterten leicht, aber nur von der Last der Kleider. Der Bruch ihres Steißbeines war schon beinahe völlig ausgeheilt, aber sie litt noch immer unter diesen Schmerzen in den Innenschenkeln, und ihr linkes Handgelenk war weiterhin geschwollen. Doch als sie ihr Gesicht am Morgen im Waschwasser betrachtete, fand Rosa, dass sie fast wieder wie früher aussah.
    Siranush hatte ihren Karren in ein Podest verwandelt, auf dem Rosa und Carlo jetzt standen, links Carlo, dessen hässliche Verwachsungen noch durch ein nachtschwarzes Kostüm betont wurden, in das ein künstlicher Buckel eingearbeitet war. Er klammerte sich an einen Stock, als ob er keinen Schritt ohne ihn gehen könnte. Hin und wieder zwinkerte er Rosa aufmunternd zu, die neben ihm als Engel der Wahrheit so schön wirkte, dass die Leute scharenweise stehen blieben – was Siranush entzückte. Carlo hatte die Idee gehabt, sie könnten so tun, als wäre Rosa stumm, so blieb das Anpreisen, Anlocken und Verkaufen Siranushs Sache.
    Von dort oben hatte Rosa den Überblick über all die vielen Stände, die es hier gab. Der Kornplatz war zwar viel kleiner als der Hauptmarkt in Nürnberg, aber trotzdem kam es ihr so vor, als wären in Bozen viel mehr Menschen unterwegs als bei ihr zu Hause. Es roch auch etwas anders: Da war der Safran aus der Lombardei, den sie von Nürnberg natürlich kannte, aber da gab es auch Baumöl vom Gardasee, und es duftete süß nach den vollreifen aus Venedig kommenden Früchten, die den Weg nach Nürnberg nicht geschafft hätten, wie Pfirsiche, Mirabellen, Feigen und Granatäpfel, Zuckermelonen und Trauben. Es roch nach Anis und Pfeffer, Zimt und Oregano, Thymian und Minze. Die Stände mit deutschem Wachs, Fellen und Pelzen waren von Menschentrauben umlagert, ebenso wie die mit Messinstrumenten aus Nürnberg. Überall wurden Preise verhandelt, wurde gebrüllt, gelacht und mit Bechern klirrend angestoßen. Das Gemisch aus italienischen und deutschen Sprachfetzen wurde von einer Musik aus Tiergeräuschen, rhythmischen Schlägen auf Metall und knirschenden Wagenrädern noch verstärkt.
    Mittlerweile standen Dutzende von Menschen vor dem Karren und starrten Rosa und Carlo an. Siranush räusperte sich, und dann wurde ihre Stimme unüberhörbar laut, hell wie eine Glocke.
    »Verehrteste Leute, was Ihr hier seht, ist ein Wunder Gottes! Shad lav! So ungewöhnlich, dass ich es selbst kaum glauben konnte, als ich den beiden zum ersten Mal begegnet bin. Es war genau am Tag der Geburt unseres Herrn, dass ich die beiden fand. Ein Schneesturm zog über mein Land, das weit, weit entfernt in Osten liegt. Es ist das Land der Steine. Armenien.
    Ich suchte Schutz in einer Höhle im Berg des Ararat. Ihr wisst, Leute, der Ararat ist der heilige Berg, an dem die Arche Noah gestrandet ist. Und so wie Noah dort die Taube erblickte, so erblickte ich diese beiden, damals noch kleine Kindlein, von denen ein seltsames Licht ausging. Ich nahm sie bei mir auf, und als die Jahre ins Land gingen, sah ich, was Gott mir da geschenkt hatte. Dieser ist zwar hässlich wie der Teufel selbst, doch ein Beschützer jener Heiligen hier, die da rein ist wie der Engel der Wahrheit. Beide sind stumm, sodass sie nur durch mich zu Euch sprechen können. Doch sie haben Euch viel zu sagen. Denn …« Siranushs Stimme wurde noch voller und lauter und schwang sich über den gesamten Kornplatz. »… dieser Engel des Lichts und der Wahrheit weiß, wer von Euch lügt und wer nicht. Sie ist unbestechlich wie Justitia selbst. Wollt Ihr wissen, ob Euer Mann die Wahrheit sagt, wenn er behauptet, er täte Euch lieben, dann bringt ihn her und zwingt ihn, vor dem Engel zu sprechen. Für zehn Kreuzer dürft Ihr eine Frage stellen, um den Engel zu prüfen, und dann stellt Ihr die Frage, die Euch wichtig ist. Aber überlegt Euch gut, was Ihr wissen wollt! Denkt daran: Wer unreife Trauben isst, dem verzieht es den Mund.«
    Es brach ein Handgemenge aus, weil dermaßen viele Leute herbeiströmten, dass der Karren ins Wanken kam. Rosa musste sich an Carlo festhalten, der sie beruhigend ansah.
    »Einer nach dem anderen, Leute, wir sind den

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