Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Flöten, die seltsam traurig klangen, wenn er darauf spielte.
Rosa hätte ihn gern über Siranush ausgefragt, aber sie wusste nicht, wie sie das am klügsten anstellen sollte. Sie hätte zu gern gewusst, wo sich die beiden kennengelernt hatten und was es mit den Narben auf Siranushs Rücken auf sich hatte.
Der Markt leerte sich mehr und mehr, und Rosa hatte den Eindruck, dass sie die Einzigen waren, die nicht ins Wirtshaus gingen, sondern auf dem Karren blieben.
»Hier, ich bin zurück. Riecht mal, was ich zur Feier des Tages Gutes gekauft habe!« Siranush wedelte mit einer großen Servierplatte vor ihnen hin und her. Es duftete nach knusprig gebratenem Hühnchen, frischem Brot und würziger Soße.
»Tu das hierhin!«, kommandierte Siranush einen Jungen, der ihr beim Tragen geholfen hatte. Der stellte zwei Krüge mit Wein ab und hielt die Hand auf, in die Siranush ein paar Groschen legte. Der Junge lächelte, überrascht von Siranushs Großzügigkeit, und stürmte davon.
Unter Siranushs Anweisungen wurde auf dem Karren eine Tafel improvisiert, zu der es neben dem Hühnchen noch gebackene Bohnen und Trauben gab.
Rosa machte sich über das Hühnchen her, als hätte sie schon monatelang gehungert, und ihr kam es so vor, als wäre dieses saftige mit Petersilie und Zitrone gefüllte Huhn geradewegs aus dem Paradies auf ihren Karren gefallen. Niemand sprach.
Rosa trank große Schlucke von dem Wein, tunkte mit einem traurigen Seufzer das letzte Stück Brot in die sahnige Soße und steckte es in den Mund.
»Das war das Beste, was ich je in meinem Leben gegessen habe.«
»Das kommt von der Arbeit. Aber sprich leiser, damit dich keiner hört.« Siranush leckte sich die Finger ab und schmatzte zufrieden.
»Noch Wein?«, fragte sie und goss Rosa noch einen Becher voll.
Carlo hielt ihr seinen Becher unter den Krug, aber Siranush schüttelte den Kopf. »Du wirst zum Tier, wenn du trinkst. Und das können wir hier nicht riskieren. Rosa, dein Handgelenk ist immer noch geschwollen – wir sollten dir noch mal einen Umschlag mit armenischer Heilerde darum wickeln. Carlo, räum das Geschirr weg, und bring mir einen Taler von meiner Erde, Wasser und einen sauberen Lappen.«
Carlo verbeugte sich leicht und flüsterte: »Deines Weibes Dorf soll auch dein Dorf sein.«
Siranush lachte und warf Carlo durch die Luft einen Kuss zu. »Kindskopf.«
Rosa fühlte sich sonderbar leicht, fand alles zum Lachen: Carlo, wie er die verlangten Sachen heranbrachte, Siranushs klimpernden Schmuck, ihre Rolle als Engel der Wahrheit. Sie trank ihren Becher aus und hielt Siranush ihre Hexenhand hin, einfach so.
Siranush untersuchte das Gelenk, so, wie es auch ihre Mutter getan hätte, aber gleichzeitig massierte sie die geschwollene Haut, und als sie zuerst behutsam die kühle Erde und dann den Verband darüberlegte, fühlte sich Rosa wie ein kleines Mädchen. Und plötzlich war sie ganz sicher, dass Siranush Kinder gehabt haben musste. Die Narben fielen ihr wieder ein. »Danke.« Rosa bemühte sich, so lautlos wie möglich zu sprechen, und dann setzte sie an, Siranush nach diesen Narben zu fragen, doch sie kam ihr mit einer Frage zuvor.
»Weißt du, warum diese unsere Erde so gut ist?«, fragte sie.
Rosa schüttelte den Kopf. Carlo setzte sich neben Siranush und legte dann seinen Kopf in ihren Schoß, und Siranush streichelte ihn wie ein Kätzchen.
»Man erzählt sich, dass Gott die Armenier vergessen hatte, als er die fruchtbare Erde auf die verschiedenen Orte der Welt verteilte. Da riefen die Armenier und klagten: ›Gott, Gott, Du hast uns vergessen!‹ Gott nahm den Sack mit Erde und schüttelte ihn aus, aber es waren nur noch Steine übrig, und so wurden die Steine die Heimat der Armenier. Und durch die Gnade des Windes und der Sonne und des Regens wurde aus diesen Steinen nach und nach unsere Heilerde, die Terra armena.«
Carlo war eingeschlafen, und auch Rosa war sehr müde.
»Das ist aber eine sehr traurige Geschichte«, wisperte sie.
Siranush zuckte mit den Schultern. »Weinen und Lachen sind Geschwister …«
Wie ein Echo zu ihren letzten Worten hörten sie draußen jemanden lachen.
Männer.
Rosa und Siranush grinsten sich an.
Rosa wollte sich gerade niederlegen, als die Männer aufhörten zu lachen und sich lautstark unterhielten.
Ihr wurde kalt, eine Gänsehaut lief über ihren Rücken, sie erstarrte und konnte nicht anders, als der Stimme zu lauschen. Es war der Dreckskerl, der die Weiber am liebsten dann bestieg, wenn
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