Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Rosa jubelte, am Fuße der Rialtobrücke war der Fondaco dei Tedeschi. Jetzt hatte sie doch ein Ziel.
Sie beeilte sich, über die Brücke auf die andere Seite zu kommen, was angesichts des Menschenstroms, der sich unablässig an den Händlern vorbei über die Brücke bewegte, nicht einfach war.
Endlich hatte sie den Fondaco erreicht, die Tore waren geöffnet, sodass Rosa einfach eintreten konnte.
»Scher dich weg!« Ein groß gewachsener Mann in einer grüngoldenen Uniform und mit einem langen Spieß trat auf sie zu.
»Aber so hört mir doch zu, ich bitte Euch!«
»Nichts da, Schlampe, scher dich augenblicklich weg, sonst hol ich die Polizia!«
Mehrere Passanten waren stehen geblieben und gafften Rosa und die Wache in Erwartung einer Szene an.
»Aber gestern war ich auch hier und …« Rosas Stimme erstarb, als der Wachmann den Spieß in ihre Richtung hob.
»Daran könnte ich mich erinnern, Kahlköpfige kommen hier nicht so oft vorbei!« Der Wachmann brach in lautes Gelächter aus.
»Fahrt zur Hölle!«, murmelte Rosa und ging weiter, als hätte sie noch ein anderes Ziel.
Die Passanten zerstreuten sich enttäuscht, einige rannten hinter Rosa her, um mit den Fingern auf ihre Glatze zu zeigen.
Rosa lief schneller, um sie abzuschütteln, aber weil sie erschöpft und hungrig war, verlangsamte sie ihr Tempo bald wieder und hoffte, dass es den Gaffern langweilig werden würde.
Sie war auf einem Platz mit einem Brunnen gelandet. Gierig trank sie daraus und wusch sich dann das Gesicht, dabei vermied sie es, sich im stehenden Wasser anzuschauen.
Jetzt fühlte sie sich zwar etwas frischer, aber der Hunger war noch stärker als vorher.
Sie brauchte einen Plan. Einen guten Plan.
Und wie so oft, wenn sie nicht weiterwusste, fragte sie sich, was wohl ihr Vater getan hätte.
Rosas Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Vater wäre entsetzt, wenn er sie so sehen könnte. Trotzdem würde er sie umarmen und trösten. Sie schniefte; für ihn musste sie stark sein. Wenn sie sein Erbe retten wollte, dann durfte sie jetzt nicht heulen, sie musste handeln, alles auf eine Karte setzen.
Sie musste endlich zum Hafen und sehen, ob sie dort auf einem Schiff anheuern konnte. Wenn es kein Schiff nach Indien gab, dann würde sie eben auf einem anheuern, das nach Spanien oder zu den Kapverden fuhr, und dort dann nach einem weiteren Schiff Ausschau halten.
Doch vorher schneide ich einen Fetzen von meinem Unterrock ab und wickle ihn mir um den Kopf, dachte Rosa, damit ich wenigstens halbwegs anständig aussehe. Wenn ich das nur als Allererstes heute Morgen getan hätte.
So ausgestattet, fragte sie wenig später Passanten nach »il porto«, dem Hafen. Doch erst nach Stunden kam sie dort an. Immer wieder hatte sie die Richtungsangaben falsch verstanden und war irregegangen, aber nun hatte sie es geschafft.
An den Kais lagen drei sehr große und zwei kleinere Segelschiffe, auf denen lebhaftes Treiben herrschte.
Ihr Herz schlug schneller. Auf so ein Schiff musste sie, koste es, was es wolle.
Ihr Hunger war auf einmal wie weggeblasen. Sie schritt schneller aus. Fast am Ziel! Der Lärm um sie herum, der vom Be- und Entladen der Schiffe kam, von den rumpelnden Karren, den kreischenden Möwen und schreienden Männern, wurde zu einem Rauschen, das nur noch von ihrem Herzschlag übertönt wurde. Dort waren die Schiffe, und auf einem davon war ein Platz für sie.
Es kümmerte sie nicht, dass sie angepöbelt und geschubst wurde, sie musste auf eines der Schiffe!
Zuerst wollte ihr niemand Auskunft geben. Was denn ein Weib der Bestimmungshafen anginge? Weiber hätten an Bord nichts zu suchen. Die brächten nichts als Unglück. Oder ob sie vielleicht einen Liebsten hätte? Doch das wurde unter viel Gelächter für unmöglich erklärt, bei ihrem Anblick würde jeder Matrose an Bord flüchten.
Doch Rosa nahm all diese Witze, das Grölen und Lachen mit stoischer Ruhe hin, denn es ging ihr nur darum zu erfahren, wohin die Schiffe unterwegs waren.
Das erste Schiff fuhr nach Alexandria, das zweite steuerte Kreta an. Ein drittes segelte nach Gallipoli, das vierte nach Zypern. Das fünfte aber hatte einen schweren Sturm nur gerade eben überstanden und sollte im Hafen von Venedig gründlich überholt werden.
Und was für Rosa das Allerschlimmste war, bei Sonnenaufgang hatte ein großes Schiff den Hafen Richtung Lissabon und Kapverden verlassen.
Bei Sonnenaufgang.
Wenn sie doch nur gestern Abend schon zum Hafen … Wenn, wenn, wenn.
Rosa starrte
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