Die Hexengraefin
Suppennapf das Krankenzimmer betreten sah. Auch der Pater war der Meinung, dass Schlaf jetzt das Beste für das Mädchen sei.
»Nur so haben wir überhaupt eine Chance, ihren Körper dem Leben wiederzugeben; und ihre verwundete Seele wird umso eher genesen, je früher ihre körperlichen Blessuren heilen«, behauptete der Benediktiner. »Ich werde an ihrem Bett Wache halten und für das arme Kind beten«, versprach Ambrosius und erleichtert verließ der alte Graf das Gemach. Aber Adelheid und Ursula blieben, um ja auf jedes Lebenszeichen der Geschwächten reagieren zu können.
Georg ritt auf Umwegen nach Hause und schlich sich heimlich in den Kuhstall, wo seine Mutter und das Jaköble gerade beim Melken waren.
Die Bäuerin war etwas verwundert: War der Sohn doch sonst der Erste im Stall. Aber ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt, sodass sie ihren Sohn umgehend vergaß.
Sie dachte nur noch an das Helen und daran, wie sie es schaffen konnte, gleichzeitig mit ihrem Kind in den Himmel zu kommen. Selbsttötung war eine Todsünde, aber wie sollte sie weiterleben, ohne ihre Tochter?
Diesen unlösbaren Gewissenskonflikt wälzte die arme Frau ununterbrochen in ihrem Kopf herum und kam doch zu keiner Entscheidung. Pfarrer Hasenauer wagte sie deshalb nicht zu befragen, denn sie wusste genau, was der ihr antworten würde. Flüchtig dachte sie an ihren Ehemann, den Jakob, der in diesen Wochen sehr alt geworden war. Ein gutes Leben, ein sehr gutes sogar, hatten die beiden bisher miteinander gehabt, und trotzdem würde die Walburga ihn verlassen, nur um bei ihrem geliebten, unschuldigen Kind zu sein.
»Das Helen wird ein Engel«, murmelte sie vor sich hin, als sie aufstand und den Melkschemel ein Stück zur nächsten Kuh weiterrückte.
»Aber noch nicht so bald, Mutter«, gab ihr der Sohn, welcher das Walburga genau verstanden hatte, zur Antwort und das arme Weib lächelte bloß, als wüsste es besser Bescheid. Georg blutete jedes Mal das Herz, wenn er Walburga ansah, die sich so völlig unnatürlich – ja fast verrückt – verhielt, seitdem man das Helen so brutal aus ihrem Haus und ihrem Leben gerissen hatte; sie als Mutter, die dazu da war, ihr Kind vor jeder Gefahr zu beschützen, hatte kläglich versagt.
Weshalb hatte sie die Kerle nicht mit einem ihrer scharf geschliffenen Küchenmesser angegriffen? Wenigstens einem hätte sie damit die Gurgel durchschneiden oder es ihm mitten in sein sündiges Herz stoßen sollen … Aber was hatte sie stattdessen getan? Auf die Knie war sie gesunken und hatte die brutalen Schweine angefleht, ihre Tochter in Frieden zu lassen.
Warum hatte sie sich nicht an Stelle ihres Kindes angeboten? Sie hätte doch sagen können: »Lasst das Helen in Frieden. Alles, was man ihm vorwirft, hab ich getan.« Sicher wären sie auch mit ihr zufrieden gewesen. ›Barmherziger Gott, das ist mir gar nicht in den Sinn gekommen‹, dachte sie betrübt. Nach dem Melken und dem Rahmabschöpfen zum Butterschlagen würde sie umgehend in ihre Schlafkammer gehen, dort auf die Knie fallen und den HERRGOTT um Vergebung dieser großen Unterlassungssünde bitten …
Georgs Gedanken aber wanderten zu dem Geschehen im Hohlweg zurück. Wie lange mochte es dauern, bis man das Verschwinden der Wachmannschaft – immerhin sechs Mann – und des Schinderkarrens mit den drei »Hexen« bemerkte?
Obwohl sich alle Männer nach dem Überraschungsangriff beeilt hatten, die Toten und den Karren zu beseitigen, gab es sicher noch irgendwelche Spuren, die ein geschulter Fährtenleser entdecken konnte.
Und aufmerksam würden diese kaiserlichen Beamten mit Gewissheit sein. Es war schließlich keine Kleinigkeit, wenn sechs vom kaiserlich-bischöflichen Gericht bestellte Männer, zwei rechtmäßig zum Feuertod verurteilte Satansdienerinnen und eine dritte, die kurz vor ihrer Urteilsverkündung stand, wie durch Zauberhand verschwanden …
Mochten schlichte Gemüter auch an den Teufel glauben, der alle geholt hatte auf ihrem Weg nach Kappelrodeck, der Oberste Richter Munzinger, der Richter Ewald Winterling und Pater Damian wären die Letzten, die es damit gut sein ließen.
Mitten im Sinnieren hörte Georg Hagenbusch ein fernes Grollen. Umgehend ließ er die Zitzen der Kuh fahren, die er gerade zu melken begonnen hatte und lief aus dem Stall.
»Heh, wo willst du hin?«, rief ihm das Jaköble verblüfft nach, aber der junge Mann stand bereits im Hof und blickte mit breitem Grinsen zum Himmel empor, wo
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