Die Hexenjagd von Salem Falls
Massenspektrometer laufen lassen. Jetzt starrten sie beide auf den Computermonitor und warteten auf die Ergebnisse. »Ich will kubanische Zigarren«, brummte Roman. »Nicht den Mist aus Florida, den du mir letztes Jahr angedreht hast.«
»Geht klar.«
»Aber die Überstunden berechne ich dir trotzdem.«
Der Bildschirm blinkte grün, und plötzlich erschien eine Flut von Zahlen. Roman nahm einen Referenztext zur Hand und verglich ihn mit dem, was im Computer zu sehen war, dann stieß er einen leisen Pfiff aus.
»Nun übersetz schon«, drängte Jordan ihn.
Roman zeigte auf die Prozentzahlen. »In dem Blut ist Atropin.«
»Bist du sicher?«
»Absolut. Bei einer so hohen Drogenkonzentration bin ich überrascht, daß die Kleine nicht ins Koma gefallen ist.«
Jordan verschränkte die Arme. »Und wie hat sich das deiner Meinung nach körperlich ausgewirkt?«
Roman lachte. »Kumpel«, sagte er, »sie war auf dem Trip ihres Lebens.«
Zum erstenmal nach rund zehn Jahren gönnte Addie sich eine Mittagspause. Ihr Vater und Delilah kümmerten sich um die Küche, Darla servierte, und Addie war sich fast überflüssig vorgekommen. Am liebsten hätte sie Jack besucht, aber Besuchszeit war erst am nächsten Tag – am Abend vor Prozeßbeginn. Also ging sie statt dessen zu Chloe.
»Tage wie heute«, sagte Addie, »hast du immer am liebsten gemocht.« Sie legte einen kleinen Strauß Gänseblümchen vor Chloes Grabstein nieder. »Weißt du noch, wie wir so getan haben, als wäre Sommer, mitten im Januar? Wir haben ein Badetuch für ein Picknick ausgebreitet und die Heizung aufgedreht und sind dann im Badeanzug in die Wanne gestiegen.« Sie berührte den Granitstein. Er war warm von der Sonne, fast so warm wie die Haut eines Kindes. »Ist da oben, wo du bist, die ganze Zeit Sommer, Chloe?« flüsterte sie.
Was sie sich jetzt mehr als alles andere wünschte, war ein riesiger Vorrat an solchen Erinnerungen. Addie fühlte sich um so vieles betrogen: Sie durfte nicht miterleben, wie ihre Tochter den ersten Sport-BH bekam, ihr nicht helfen, ein Kleid für den Schulball auszusuchen, nicht sehen, wie ihre Augen dunkler leuchteten, wenn sie zum erstenmal von einem Jungen sprach, in den sie verliebt war. Es fehlte ihr, sie zur High-School fahren zu können, mit ihr Eis essen zu gehen und das Hörnchen mit ihr zu tauschen, um den anderen Geschmack zu probieren. Es fehlte ihr, zu reden und eine Antwort zu hören.
»Miss Peabody?«
Der Klang einer Mädchenstimme erschreckte Addie so sehr, daß sie herumfuhr. Meg Saxton stand am Grab und blickte genauso verblüfft drein wie Addie.
»Meg … ich hab dich gar nicht kommen hören.«
Zwischen ihnen war eine Wand, unsichtbar, aber dick. Das letztemal, daß Addie mit Meg gesprochen hatte, war auf Chloes Beerdigung gewesen. Meg und Chloe hatten oft zusammen auf der Schaukel in Addies Garten gespielt. Aber da stand Meg, fast erwachsen, und Chloe war tot.
»Wie … wie geht’s dir?« fragte Addie höflich.
»Gut«, antwortete Meg. Schweigen.
»Wolltest du Chloe besuchen?« fragte Addie.
Sie wandten sich beide dem Grabstein zu, als erwarteten sie, daß Chloe auftauchte. »Ich wünschte, sie wäre noch da«, gestand Meg. »Ich meine, sie war nur ein bißchen älter als ich, und ich glaube … wir wären jetzt Freundinnen.«
»Das hätte Chloe bestimmt schön gefunden«, sagte Addie leise. Megs Augen füllten sich mit Tränen, und sie wandte sich ab, um sie zu verbergen. »Meg? Ist alles in Ordnung?«
»Nein!« rief Meg, und das Wort erstickte in einem Schluchzen »O mein Gott.«
Addie nahm sie instinktiv in die Arme, und die Berührung war wie ein elektrischer Schlag. Meg roch nach Shampoo und billiger Kosmetik und Kindheit, und Addie war überwältigt davon, den Körper eines Mädchens zu spüren, das fast in dem Alter war, in dem Chloe jetzt wäre. So wäre es also gewesen , dachte sie und schloß die Augen.
Meg flüsterte so leise, daß Addie meinte, nicht richtig gehört zu haben. »Ich beneide sie.«
»Wen?«
»Chloe.«
Addies Hände verharrten. »Das meinst du nicht im Ernst.«
»Doch.« Meg wischte sich mit dem Saum ihres T-Shirts über das Gesicht. »Ich wünschte, ich wäre tot.«
Plötzlich begriff Addie, wieso Meg auf dem Friedhof war. Sie war noch einmal an der Stelle gewesen, wo die angebliche Vergewaltigung stattgefunden hatte. Jack hatte es nicht getan – da war sie sich so sicher, wie sie wußte, daß Chloe hier begraben lag –, aber irgend etwas in der Nacht
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