Die Hexenjagd von Salem Falls
wissen«, sagte Stuart und gluckste vor sich hin. »Sie sind ja hier der Experte.«
Es geschah so schnell, daß Jack sich später nicht erinnern konnte, wann genau er Stuart am pergamentfaltigen Hals packte und ihn mit einer Hand vom Hocker hob. Oder daß Roy versuchte, ihn von dem alten Mann wegzuziehen. Der ganze »Diner« schaute der Vorführung gebannt zu.
»Jack!« rief Addie mit schneidender Stimme. »Jack, hör auf.«
Er ließ augenblicklich los, und Stuart rollte hustend auf die Seite. Das Blut, das in Jacks Kopf gehämmert hatte, floß wieder ruhig, und er starrte auf seine Hände, als wären sie ihm eben erst gewachsen. »Mr. Hollings«, stammelte er. »Es tut mir schrecklich leid.«
»Der Arzt hat fast recht gehabt«, röchelte Stuart. »Nicht der Kaffee bringt mich um, aber der Bursche, der ihn abräumt.« Mit Hilfe von Wallace stand er mühsam auf. »Sie sind ja ein knallharter Bursche, Jack. Man muß schon ein ganzer Kerl sein, um einen alten Knaben wie mich zu vermöbeln … und ein Kind zu vögeln.«
Jacks Hände zuckten. »Stuart, Wallace«, sagte Addie. »Es tut mir so leid.« Sie trat einen Schritt vor und setzte ihr berückendstes Lächeln auf. »Das Frühstück geht natürlich aufs Haus. Für alle.«
Jubel brach aus, Stuart und Wallace waren wieder die Helden der Stunde, und die Spannung löste sich in nichts auf. Addie wandte sich an Jack. »Kann ich kurz mit dir reden? Unter vier Augen?«
Sie führte ihn auf die Damentoilette, hübsch und blumig und nach Potpourri duftend. Jack wich ihrem Blick aus; er trat unbehaglich von einem Bein aufs andere und wartete auf die Standpauke.
»Danke«, sagte Addie und schlang die Arme um seinen Hals, zart wie Efeu.
Kurz darauf, ihren Geschmack noch auf den Lippen, sagte Jack: »Wieso bist du mir nicht böse?«
»Ich gebe zu, es wäre mir lieber gewesen, du hättest nicht Stuart am Schlafittchen gepackt und nicht vor so vielen Leuten, die nur auf so was gewartet haben. Aber früher oder später werden sie sich fragen, wieso ein Unhold sich auf die Seite der Opfer schlägt.« Sie zog ihn näher an sich, bis sein dankbares Gesicht an ihrem Hals lag und sein Atem in ihre Bluse strömte. »Kommst du heute abend zu mir?« flüsterte sie. Und sie spürte sein Lächeln auf ihrer Haut.
In einer Ecke der High-School-Mensa war ein provisorischer Altar errichtet worden. Er quoll über von Nelkensträußchen und Teddybären und selbstgemachten Karten, die Hailey McCourt, der ein Gehirntumor entfernt worden war, rasche Genesung wünschten. »Ich hab gehört«, flüsterte Whitney, »er soll so groß wie eine Grapefruit gewesen sein.«
Gillian nahm einen Schluck von ihrem Eistee. »Das ist lächerlich. Dann hätte sie doch am Kopf eine Beule gehabt.«
Meg schauderte. »Hailey war ein echtes Scheusal, aber das wünsche ich niemandem.«
Amüsiert sagte Gilly: » Du wünschst das niemandem?«
»Natürlich nicht!«
»Meg, durch dich ist sie doch überhaupt erst krank geworden! Findest du es denn gar nicht merkwürdig, daß wir einen Zauber gegen sie sprechen, und am nächsten Tag bricht sie zusammen?«
»Mensch, Gill, muß es denn gleich die ganze Schule erfahren?« Meg blickte nervös auf den Altar, wo zwei Schülerinnen einen riesigen Lutscher ablegten, an den eine Schleife gebunden war. »Außerdem waren wir das nicht. Keiner kriegt über Nacht einen Tumor.«
Gilly beugte sich vor. »Doch, wir haben das gemacht.«
Meg war jetzt kreidebleich. »Aber wir dürfen doch niemandem Schaden zufügen. Gill, wenn wir für ihren Gehirntumor verantwortlich sind, was passiert uns dann?«
»Vielleicht sollten wir sie heilen«, schlug Chelsea vor. »Dafür sind wir doch Hexen, oder?«
Gillian tauchte den Löffel in ihren Joghurt und leckte ihn genüßlich ab. »Wir sind Hexen«, sagte sie, »für alles, was uns nützt.«
Amos Duncan schlug mit einem Hammer auf die Kanzel vorn in der Congregational Church. Das Gemurmel auf den vollbesetzten Kirchenbänken erstarb augenblicklich, und alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf den silberhaarigen Mann. »Ladies und Gentlemen, danke, daß Sie so kurzfristig gekommen sind.«
Er ließ den Blick über die Menge wandern. Die meisten Anwesenden kannte er schon sein Leben lang, Menschen, die wie er in Salem Falls geboren und aufgewachsen waren und von denen viele für ihn arbeiteten. Zur Einberufung der Versammlung war hastig ein Flugblatt fotokopiert worden, das Jungs aus dem Ort für ein paar Dollar verteilt hatten.
Charlie
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