Die Hexenmeister
lassen können. Oft genug versuchte sie, mit zum Gebet gefalteten Händen einzuschlafen, um sich schon im voraus gegen die bösen Träume zu wehren. Es war ihr nie gelungen.
Solara kniete nieder. Ihre Hände legte sie mit den Handflächen zusammen, die Finger hielt sie ausgestreckt. Dann senkte sie den Kopf und dachte an die zahlreichen Gebete, die sie auswendig gelernt hatte, deren Text ihr aber seltsamerweise nicht einfiel.
Sie konnte sich nicht konzentrieren. In Solaras Hirn war eine Blockade entstanden, die sie nicht überwinden konnte.
Warum denn nur?
Sie stöhnte auf, versuchte es von vorn, rutschte auf den Knien unruhig auf der schmalen Bank hin und her, aber es war ihr nicht vergönnt, auch nur die ersten Textzeilen der ihr bekannten Gebete zu sprechen.
Sie klappte die Hände wieder auseinander. Ihr Herz schlug schneller. Sie stellte auch fest, daß sie in Schweiß gebadet war, gleichzeitig aber fror sie, und der Vergleich der beiden Kräfte, die in ihrem Körper tobten, kam ihr in den Sinn.
Schlimm…
Sie stand auf.
Unruhe und Gehirnblockade zugleich erfüllten sie. Scheu schaute sie sich um, ohne jedoch etwa erkennen zu können. Niemand außer ihr hielt sich in dem Raum auf, obgleich sie den Eindruck hatte, daß jemand bei ihr war.
Ein Unsichtbarer…
Sie lief zum Fenster. Die Kammer kam ihr düster wie ein altes Grab vor.
Sie mußte einfach nach draußen schauen, um das Sonnenlicht genießen zu können. Das gab ihr vielleicht Mut.
Da hörte sie das Kichern!
Die junge Nonne erstarrte. Diesmal rieselte die zweite Haut noch stärker über ihren Körper, und sie hatte sogar den Eindruck, als würden Eiskörner auf ihren Rücken prasseln.
War doch jemand hier?
Solara drehte sich um.
Nein, nichts.
Aber das Kichern blieb. Es drang aus dem Unsichtbaren. Dort mußte sich jemand aufhalten, der sie genau unter Kontrolle hielt. Eine rationale Erklärung dafür hatte sie nicht, und sie fand auch nicht heraus, ob das Kichern nun von einer männlichen oder weiblichen Person ausging.
»Ich bin der Tod…«
Vier Worte, ein Satz, den Solara genau verstanden hatte. Warum der Tod? Wieso meldete er sich bei ihr? Konnte sich der Tod überhaupt melden oder ankündigen, abgesehen von Krankheiten?
»Wer bist du?« Sie stellte die Frage und ärgerte sich im selben Augenblick darüber, es überhaupt getan zu haben. Als Antwort vernahm sie wieder das Kichern.
In der Mitte der Zelle blieb sie stehen. Zuerst steif, dann bewegte sie sich und drehte sich auf der Stelle. Dabei dachte sie an ihre Träume, die plötzlich und von einem Augenblick zum anderen Wirklichkeit zu werden schienen. Dann würde sie tatsächlich das Grauen überfluten und sie mit sich reißen.
Nicht nur ihre Hände zitterten, ihr gesamter Körper befand sich in Bewegung. Sie holte nur stockend Luft und ließ auch dies sein, weil sie ein anderes Geräusch gehört hatte.
Das Schaben…
Hinter ihr!
Sie drehte sich um. Von der Wand her war das Geräusch erklungen, wo auch ihr Betstuhl stand.
Genau über ihm sah sie das Schreckliche und Unwahrscheinliche.
Dort hing das Kreuz!
Nur nicht mehr ruhig, still und vertraueneinflößend. Jetzt bewegte es sich von links nach rechts, als wären geheimnisvolle Kräfte dabei, es unter ihre Kontrolle zu bekommen.
Es schabte über die Wand, es pendelte, es schwang, es wurde immer hektischer und schneller. Das konnte nicht gutgehen.
Und es ging nicht gut. Noch ein letzter Schwung, dann löste es sich vom Dübel und fiel zu Boden.
Solara schrie auf. Was sie eben erlebt hatte, war so furchtbar, daß sie es nicht begreifen wollte. Da war ein Stück Hoffnung zerstört worden. Sie hatte immer darauf gesetzt, auf seinen Schutz, und jetzt mußte sie erleben, daß es andere Kräfte gab, die stärker waren.
Trug der geheimnisvolle Sprecher auch für diesen Vorgang die Verantwortung?
Es lag auf dem Boden, als hätte es jemand weggeworfen. Aber das war nicht alles, nur das Vorspiel, denn das eigentliche Grauen begann Sekunden später.
Plötzlich schlugen Flammen aus dem Holz des Kreuzes. Bläulich und grün schimmernd, im Innern mit einem roten Kern versehen. Das Feuer bildete ein zuckendes Dreieck über dem Kreuz, bevor es mit einem fauchenden Laut zusammensank und nur mehr bleiche Asche zurückblieb.
Solara starrte die Reste an. Sie hörte sich weinen, dann überkam sie die Panik.
Sie rannte nicht aus dem Zimmer, sondern verkroch sich wie ein verletztes Tier in die Ecke, wo sie hockenblieb, den Rücken gegen
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