Die Himmelsbraut
Ursel holte tief Luft. «Ich wollte gerade die Betten von Mutter Camilla und ihrem Zögling machen, in ihrer Schlafkammer im obersten Stock, und hatte zum Lüften die Fensterluken geöffnet. Von dort aus kann man über das Klostertor sehen.»
Sie hielt inne, als könne sie es noch immer nicht fassen.
«Weiter», drängte Mechthild.
«Vor dem Tor standen zwei Kutschen und zwei beladene Fuhrwerke, bewacht von geharnischten und bewaffneten Reitern. Und dann … und dann habe ich sie einsteigen sehen, alle miteinander. Nicht in geistlicher Tracht, nein, in den edelsten pelzbesetzten Umhängen und Brokathauben und unsere Priorin sogar mit dem goldbestickten Turban, den ich mal in ihrer Kleiderkiste entdeckt habe. Selbst ihre drei Köter hatte sie dabei.»
«Das kann nicht wahr sein!»
«Vielleicht», warf Hilde zaghaft ein, «waren sie ja zu unserem Schirmherrn, dem Grafen von Lupfen, gerufen und haben vergessen, uns zu benachrichtigen.»
«Unsinn!» Ursel rollte empört mit den Augen. «Ich hab mich natürlich gleich ein bisschen umgesehen in der Wohnung. Alles, was nur einigermaßen von Wert war, ist verschwunden. Sogar die Tafelbilder von den Wänden.»
Für einen Moment verschlug es ihnen die Sprache.
«Ich will euch was sagen.» Ungeniert ließ Ursel sich auf dem kostbaren Äbtissinnenstuhl nieder. «Die Ratten haben das sinkende Schiff verlassen. Diese Justina von Grüningen, diese dumme, eitle Novizin, hat nämlich beim Einsteigen in die Kutsche ziemlich laut gerufen: ‹Jetzt soll es nur kommen, das Bauernpack›.»
Rasch hatten sie Euphemia zu ihrer Sprecherin gewählt, wobei Ursel ihnen gelobte, an ihrer Seite zu bleiben, um anschließend bei einem Rundgang die Lage zu prüfen. Im Novizenhaus, wo sämtliche Türen sperrangelweit offen standen, waren genau wie im Priorat alle kleinen und großen Kostbarkeiten verschwunden, und im Vorratskeller der Klausur fehlten neben dem Salzfass sämtliche Gewürze, Käse- und Fleischvorräte.
«Selbst vom Wein haben sie den besten Tropfen mitgenommen», schnaubte Mechthild nach einem kurzen Blick in den Weinkeller. Dann wandte sie sich an Hilde: «Glaubst du noch immer, dass diese Verräterinnen nur auf Reisen gegangen sind?»
«Nein», gestand die Gartenmeisterin kleinlaut ein.
Dass die Priorin mitsamt ihrer Gefolgschaft das Kloster feige seinem Schicksal überlassen hatte, machte ihnen noch etwas ganz anderes bewusst. Der Grund für diese heimliche und ganz und gar nicht ungefährliche Flucht konnte nur darin liegen, dass ein Angriff der Bauern bevorstand und dass Mutter Camilla hiervon gewusst haben musste.
«Was machen wir nun?» Das Zittern in Hildes Stimme verriet ihre Anspannung.
«Vielleicht sollten wir vorsichtshalber das Nötigste zusammenpacken», schlug Ursel vor. «Nur für den schlimmsten Fall.»
«Das kannst
du
gerne tun.» Euphemias sonst so sanftmütiges Gesicht zeigte Entschlossenheit. «
Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
So steht es geschrieben, und so sollten wir auch unser Schicksal in seine Hand legen und in Zuversicht abwarten. Wer von euch aber gehen will, der soll es jetzt sofort tun.»
Niemand rührte sich. Euphemia musterte die Frauen.
«Dann bleiben wir also beisammen? Auch du, Ursel?»
Die Laienschwester nickte. «Nur sollten wir nach den Familiaren sehen. Die haben gewiss längst gemerkt, was geschehen ist.»
«Ursel hat recht», sagte Antonia und kämpfte gegen ihre Furcht an. «Die guten Leute sind zu einer Versammlung einberufen, und jetzt verstehe ich auch, warum. Damit Mutter Camilla und ihre Nonnen unbemerkt aus dem Kloster verschwinden konnten.»
«Ich werde mit den Männern und Frauen reden», beschied Euphemia.
Magdalena fasste sie beim Arm.
«Lasst uns zuvor beten. Es ist Zeit für die Terz.»
Sie war die Einzige, die die ganze Zeit über ruhig geblieben war und keine Angst zu haben schien. Im Gegenteil – Antonia hatte den Eindruck, als sei ihr eine Last von den Schultern genommen.
Nach kurzer Überlegung begaben sie sich, als ob sie es geahnt hätten, statt auf die Nonnenempore in den Hauptchor, wo die nächste böse Überraschung wartete. Sowohl Kreuz- als auch Hochaltar standen nackt und leer im Raum! Die zahlreichen Leuchter waren ebenso verschwunden wie die beiden goldbestickten Altartücher und das wertvolle Evangeliar. Doch das war nicht alles. In der Sakristei, deren Tür weit offen stand, fehlten die Hostienschalen und Messkelche, die kunstvoll bestickten liturgischen Gewänder und
Weitere Kostenlose Bücher