Die Himmelsbraut
zerklüfteten Felswänden tiefe Schluchten durchquert, auf glitschigen Pfaden, die die Maulesel zum Bocken und die Karren ins Rutschen brachten, waren durch stille Wälder gezogen, wo uralte Bäume mit Moosen, Flechten und Zunderpilzen bedeckt waren wie mit löchrigen Mänteln, vorbei an Wasserfällen, deren Gischt einem selbst von ferne die Wangen benetzte, und an klaren Bächen, in denen fette Forellen im Wasser standen. All das hatte sie erinnert an die Jahre ihrer Kindheit. Oft war sie stehen geblieben und hatte einen besonders schönen Anblick gierig in sich aufgesogen, mit den Augen und mit dem ganzen Herzen, und hatte sich dabei immer ein wenig geschämt gegenüber der toten Schwester. Dafür nämlich, dass sie die Welt so voller Freude genießen konnte.
«Wo soll ich denn sonst hin?», sagte sie leise.
Hans ließ sie los und blickte sie durchdringend an.
«Ich wüsste schon einen Platz für dich. Bleib an meiner Seite, Antonia, und werde meine Frau!»
46 Freiburg, Mitte Mai 1525
D ie Welt stand kopf. Nichts war mehr wie vor seiner Abreise aus Freiburg. Sein Vater war tot, sein eigener Bruder hatte Antonias Familie, ja ihr Leben zerstört und sogar vor aller Augen das Schwert gegen ihn gezogen. Und jetzt, wo er in Breisach gewesen war, hatte er erst recht die Gewissheit, Antonia nie wiederzusehen.
Am Ende hätte ihn die Rückkehr nach Freiburg noch fast den Kopf gekostet. Zwar war er vorgewarnt gewesen, hatte vom Hauptmann der Breisacher Bürgerwache erfahren, dass die Bauern zu Tausenden auf Freiburg gezogen seien, und daher beschlossen, nicht die Landstraße zu nehmen, sondern versteckte Pfade quer durch die sumpfige Mooswaldniederung, die sich im Westen der Stadt erstreckte. Indessen hatte er zu spät gemerkt, dass die Haufen fast rund um Freiburg lagerten und dass allein von Osten, von der Schwarzwaldseite her, noch ein Durchkommen gewesen wäre. So war er kurz vor Freiburg doch noch mitten in eine Rotte Bauern geraten. Ehe er sich überhaupt zur Wehr setzen konnte, hatten sie ihn vom Pferd geholt und angedroht, ihn durch die Spieße zu jagen. Erst als ihm der Einfall kam, seine gute Bekanntschaft zu Hans Müller von Bulgenbach zu beschwören, hatten sie von ihm abgelassen und ihn bis an die Vorstadtmauern geschleppt. Sein Ross, seine Waffen und seine Kleidung bis auf Hemd und Hose hatten sie ihm abgenommen.
So war er, armselig wie ein Bettler und voller Schrammen, nach Hause in die Vordere Wolfshöhle zurückgekehrt, wo ihn Molitoris höchstpersönlich empfing. Nachdem der Hausvater ihn unter lautstarken Vorhaltungen ob seines Leichtsinns in die Stube geführt und ihm einen kräftigen Rotwein eingeflößt hatte, war Phillip in seine Kammer hinaufgestiegen. Dort hatte er sich aufs Bett geworfen und erstmals den Tränen freien Lauf gelassen. Wie sinnlos alles war! Mit einem Mal fühlte er sich so elend, dass er es kaum aushielt. Wen gab es denn noch für ihn, dem er vertrauen konnte, mit dem er sich aussprechen konnte? Wen hatte er noch auf der Welt? Ein Mann brauchte einen Freund oder aber Frau und Familie, und ihm war weder das eine noch das andere vergönnt.
Dass die Bauern ihn mit heiler Haut hatten davonkommen lasse, erfüllte Phillip plötzlich mit Wut. Hätten sie ihm doch nur den Garaus gemacht!
In der Stadt war man derweil bestrebt, allerlei Vorsichtsmaßregeln zur Sicherheit der Bürger und vor allem der Gäste zu treffen. Hinter Freiburgs Mauern nämlich hatten etliche Adlige sowie Äbte und Mönche aus den umliegenden Klöstern Schutz gesucht. Sogar die Familie des Markgrafen Ernst von Baden weilte hier. Markgräfliche Söldner und wehrhafte Bürger patrouillierten zuhauf durch die Gassen, denn inzwischen drohte noch eine weitere Gefahr. Von Osten, dem Dreisamtal her, näherte sich Hans Müller von Bulgenbach mit seinem Schwarzwälder Haufen. Zusammen mit den Bauern auf der anderen Seite der Stadt wäre Freiburg somit in die Zange genommen.
Da der Universitätsbetrieb in diesen angespannten Zeiten ruhte, fanden weder im Hause Molitoris noch anderswo Vorlesungen statt. Und so verbrachte Phillip einen ganzen Tag und eine Nacht reglos auf dem Bett, den Blick an die Decke geheftet, bis er gegen Morgen endlich in unruhigen Schlaf fiel. Als ihn die warmen Sonnenstrahlen, die durch das offene Fenster auf sein Bett fielen, schließlich weckten, kam ihm ein Gedanke, der ihn wieder unter die Lebenden brachte. Er wusste, dass der Abt des Tennenbacher Klosters sich mit seinen geistlichen
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